Der allrussische Traum oder Was treibt Putin wirklich an?

Nachfolgend der Text eines Vortrags von mir am 16.4.22 auf der DiVOC22 „Bridging Bubbles“ des CCC Hamburg.

Es ist schon ungefähr dreißig Jahre her, da begab ich mich für eine Reportage in die russische Stadt Nischnij Nowgorod, auf der Suche nach der „Russischen Seele“, der duscha russkaja.

Mitgebracht habe ich von dort zwei Dinge: Eine Reihe von wunderschönen, aber unglaublich deprimierenden Schwarzweiß-Fotos zum postsowjetischem Verfall einer schönen, alten russischen Stadt. Und ein Interview mit einem jüdischen Philosophieprofessor, das in dem Satz gipfelte: „Wir haben euren Faschismus besiegt. Um den Preis, dass wir unseren am Leben gelassen haben.“

Einigen wir uns für diesen Vortrag darauf, Faschismus zu definieren als Ultranationalismus, gepaart mit Führerprinzip, Ablehnung demokratischer Prinzipien sowie dem Primat der Gruppe über das Individuum. Ich habe bewusst nicht „antikommunistisch“ hinzugefügt, weil das nur auf die faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts zuträfe. Und selbst da sind die Grenzen verschwommen: Marx war sicher kein Faschist, Lenin höchstwahrscheinlich nicht, Stalin hinwieder ganz sicher.

Jetzt machen wir erst einmal einen kurzen historischen Exkurs.

Nämlich weil das mit die Geschichte – also erstens ist es wie überall kompliziert, und zweitens haben wir das in der Schule ja nicht gelernt und daher hat kaum wer Ahnung davon. Wäre aber praktisch, denn es erklärt sehr viel von dem, was da gerade in der Ukraine abgeht.

Die Wikinger – ja, tatsächlich, die – sind als ebenso unternehmungslustig wie reisefreudig bekannt, und das nicht nur nach Westen, wo Eric der Rote bis nach Neufundland kam, sondern auch nach Osten. Dort fuhren sie auf Flüssen wie Dnjestr und Dnjepr mit ihren Drachenschiffen von Skandinavien bis an das Schwarze Meer und begründeten dabei eine Reihe von Städten als Handelsniederlassungen, respektive trieben mit den Städten, die sie schon vorfanden, Handel. Man nennt diese Wikinger auch Waräger, angeblich sind sie für die unpackbar blauen Augen sowie das leuchtende Strohblond der Ukrainerinnen verantwortlich, oder so ähnlich. So weit die Fakten.

Der Mythos erzählt von einem Stamm der Wikinger, der sich Rus nannte. Von denen gibt’s aber keine geschichtlichen Bezeugungen, also gibt es sie erst mal offiziell nicht. Was die Rus oder Waräger oder wen auch immer, nicht davon abhält, ab dem neunten Jahrhundert als Kiewer Rus aufzutreten, als Großreich der Slawen so in etwa dort, wo die heutige Ukraine ist.

Der Mythos erzählt von zehn weisen Männern, die in einem goldenen Boot den Dnjepr herunterkommen und in der Stadt Kiew an Land gehen, um dort auf den sieben Hügeln der Stadt das neue (orthodoxe a.k.a rechtgläubige) Rom zu gründen (bzw. wieder zu errichten).

Die Geschichte wieder weiß, dass der warägische Großfürst Wladimir I. Swjatoslawitsch 899 in Kiew zum byzantinisch-orthodoxen Christentum konvertierte, weshalb ihn die Russen den Heiligen nennen und in Kiew die Wiege ihrer Nation sehen.

Das ist ein wichtiger Punkt: Tatsächlich sind die Geschichte von Kiew und Moskau eng miteinander verbunden.

1240 fiel Kiew, die Goldene Pforte, im Zuge der mongolischen Invasion, das ist auch das Ende der Kiewer Rus. Erst dreihundert Jahre später eroberte Iwan IV, Großfürst von Moskau, die tartarischen Khanate Khasan und Astrachan und legte damit den Grundstein zu einem modernen russischen Großreich. Die Geschichte dankte es ihm, indem sie ihn den „Schrecklichen“ nannte, wobei die Übersetzung fehlerhaft ist, denn die Russen nennen ihn groznyj, was der „Drohende“, der „Strenge“, „der zu Respektierende“ bedeutet, wahrscheinlich ist das „schrecklich“ ein früher PR-Spin (katholischer) europäischer Fürstenhöfe, gegenüber dem neuen Mitspieler, der noch dazu die „falsche“ Religion hatte. However.

Jedenfalls versteht die russische Geschichtsschreibung Moskau seither als legitime Nachfolgerin der Kiever Rus, konsequenterweise nannten sich die Zaren seit Iwan „Herrscher aller Russen“ und meinten damit auch Kiew und Minsk, also die Ukraine und Weißrussland.

Und Kiew selber? Versank nach dem Tartarensturm in die Mittelmässigkeit und wurde erst eine Provinzstadt der litauischen Großfürsten und später eine ebensolche im Königreich Polen.

Die Polen waren katholisch, die lokalen Ruthenen orthodox, das klingt nach Ärger, und so war es auch. Wobei die anti-polnischen Bewegungen nichts von Unabhängigkeit redeten, sondern von der Vereinigung mit dem russischen Mutterland. Das gelang auch unter dem Hetmann der Kosaken Bogdan Chmelnitzkij, dieser besiegte in mehreren Schlachten diverse polnische Heere, meuchelte bei der Gelegenheit auch ein Fünftel der (damaligen) ukrainischen Juden, um schließlich 1654 den Zusammenschluss des Kosakenstaates mit dem russischen Zarenreich zu feiern.

Seither ist Kiew „wieder“ russisch, denn Chmelnitzkij verstand sich als Russe. Von „ukrainischem“ Nationalismus war da weit und breit noch nichts zu sehen und zu hören.

Martti J. Kari ist Finne und pensionierter Oberst des Geheimdienstes der finnischen Streitkräfte und lehrt an der Universität von Helsinki: „Ich habe mich mein ganzes Leben lang mit Russland und der russischen Sicht der Welt auseinandergesetzt“. Für ihn sind vor allem die dreihundert Jahre tartarischer Herrschaft ein Schlüssel. Ich kann leider kein Wort Finnisch, aber die Untertitel übersetzen es mit „a completly lawless period“,  eine völlig gesetzlose Zeit. Das bedeutet gleichzeitig: Der Stärkere gewinnt. Und dieses Prinzip habe sich, so Oberst Kari, im Denken und Handeln Russlands bis heute festgeschrieben.

Kurzer Exkurs zur Religion: Als sich das Christentum 1054 in eine West- und eine Ostkirche spaltete, ging es, neben Fragen des Ritus und der päpstlichen Machtbefugnisse, auch um etwas Grundsätzliches, nämlich ob man sich G*tt mit menschlichen Methoden (vor allem denen der Vernunft) nähern dürfe, oder ob G*tt ein Mysterium sei, dem eins sich widerspruchslos unterwerfen soll/muss. Die westliche Welt entwickelte konsequenterweise die Jesuiten und Jürgen Habermas, die Ostkirchen verharren bis heute in einem tiefen Mystizismus. Demzufolge ist rationell denken im Zweifelsfall sündhaft. Das zieht sich bis heute durch alle Gesellschaftsschichten, läppische siebzig Jahre sowjetischer Antiklerikalismus haben da wenig bewirkt. Und was den aufklärerischen Anspruch im Sozialismus betrifft: Der ging, samt Sozialismus, schon bei Stalin flöten.

Die Zaren verstanden sich als g*ttgesandt und daher als unfehlbar. In dem Augenblick, in dem der Zar gekrönt wird, bekommt er von G*tt die Gnade und die Erleuchtung, das Richtige zu tun. Und wenn er einen Fehler macht, dann ist es niemals des Zaren Schuld, sondern immer die seiner Untergebenen, der „Bojaren“, der Hofadel, der das Gros der Verwaltung stellte. Und G*tt ist selbstverständlich Russe, denn die orthodoxe Kirche ist eine Staatskirche und untrennbar mit der Macht verbunden. Dabei ist sie zutiefst konservativ, machtdevot und staatsgläubig – Autorität wird von G*tt verliehen, sie in Frage zu stellen ist eine Sünde.

Man kann es auch in historischen Dimensionen erklären: Die Aufklärung, von Locke, Hobbes, Hume, von Erasmus und Descartes und Montesquieu und wie sie alle heißen, all die Denker, aus deren Gedanken die Grundlagen unserer modernen Staatsideologie hervorgegangen sind, kommen in der russischen Geschichte nicht vor, weder im Original noch in der Übersetzung noch in einem lokalen Äquivalent oder sonst etwas. Bis tief ins 19. Jahrhundert hinein sind die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung Leibeigene, also de facto Sklaven, mit einer dünnen Oberschicht der Adeligen. Kurzum: Die europäische Aufklärung hat hier nie statt gefunden.

Und die Industrialisierung in Russland erfolgte in Wirklichkeit erst durch die Bolschewiki, wie im berühmten Satz von Lenin auf dem VIII. Gesamtrussischen Sowjetkongress am 22. Dezember 1920 festgehalten: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“.

Die Sowjetmacht und nach ihr auch Wladimir Putin haben, neben dem Anspruch als „allrussische“ Herrschaftsmacht, auch die imperialistischen Ansprüche des Zarentums übernommen, ebenso wie auch den Anspruch der Unfehlbarkeit („Die Partei hat immer Recht.“) Der Panslawismus, eine Idee vor allem aus dem 19. Jahrhundert aus der Hexenküche des Nationalismus, sieht die Slawen – also alle, Bulgaren, Serben, Slowaken – als ein einziges Volk, vereint im rechtmäßigen Glauben, und die Russen sind dazu ausersehen, sie zu schützen und zu verteidigen.

Und dabei ist, so der finnische Oberst Kari, am Ende jedes Mittel recht, selbstverständlich auch die rohe Gewalt, der Vertragsbruch, was immer der Glorie Russlands und dem Erhalt und der Fortführung derselben dient. So predigt das dann auch der Pope in der Kirche.

1917 ist große Zäsur in der russischen Geschichte: erst der Sturm auf dem Winterpalast und die bürgerliche Revolution, dann der bolschewistische Putsch und acht Jahre Bürgerkrieg. Um 1920 waren mehr als zwei Millionen Russen ins benachbarte Ausland geflohen, die meisten von ihnen Adelige oder Intellektuelle. Es ist die bis dahin größte Flüchtlingsbewegung Europas.

Einer von ihnen, Nikolaj Sergejewitsch Trubezkoj, war schon vor seiner Flucht angesehener Linguist in Moskau. Er schrieb 1920 im Exil: „Es gibt nur einen wahren Gegensatz: die Romanogermanen und die übrigen Völker der Welt, Europa und die Menschheit.“

Moment, ich erkläre das gleich.

1921 erschien dazu der erklärende Sammelband „Exodus nach Osten“ in einem russischen Exilverlag im bulgarischen Sofia. Der Band enthielt Aufsätze von Trubezkoj sowie des Theologen Georgi Florowski, des Geographen, Ökonomen und Philosophen Pjotr Sawizki sowie des Musikologen Pjotr Suwtschinski. Die Autoren entwickelten darin ein Konzept, dem sie die Bezeichnung Jewrasijstwo gaben, das lässt sich in etwa mit „Eurasismus“ oder „Eurasianimus“ übersetzen. Diese geopolitische Ideologie behauptet, dass ein von Russland dominierter, zwischen Europa und Asien befindlicher „Kontinent Eurasien“ in einem fundamentalen Gegensatz zur „romano-germanisch“ geprägten westlichen Welt stehe.

Dieser „Kontinent Eurasien“ deckt sich in ungefähr mit dem Territorium des zaristischen Großreiches. Westliche Kultur wird nicht per se abgelehnt, jedoch als für Russland ungeeignet erachtet, da ihr das spirituelle Element fehlt. Der Bolschewismus wird als „abscheulich“ zurückgewiesen; die Exzesse im russischen Bürgerkrieg hätten seine „geistige Armut“ (duchownoje uboschestwo) gezeigt, aber auch die „rettende Kraft der Religion“ hervortreten lassen.

Ziel der Eurasier ist die Vereinigung der großen christlichen Kirchen unter Führung der russisch-orthodoxen Kirche; der Katholizismus habe die Urgedanken des Christentums verfälscht. Auch die Juden seien einzubeziehen, die „orthodoxe jüdische Kirche“ bliebe aber in ihrem Kult eigenständig. Ein Zar solle „in christlicher Liebe“ diesen zu schaffenden „Staat der Weisheit“ regieren, in dem alle Nationalitäten gleichberechtigt seien. Auch die Ukraine habe ihren Platz in diesem eurasischen Reich zu finden; der Anspruch ukrainischer Nationalisten, zu Europa zu gehören, sei historisch unbegründet. Wichtigster Nachbar Eurasiens sei China. Die geeignete Wirtschaftsform sei eine weiterentwickelte Planwirtschaft.

Extempore: Ich habe ja schon vorhin auf den tiefen Mystizismus in der russischen Kultur hingewiesen, das möchte ich hier noch einmal explizit hervorheben. Mystik ist ein untrennbarer Bestandteil des russischen Wesens, deshalb konnten sich auch die feudalen Strukturen so gut erhalten, schließlich waren sie ja „g*ttgegeben“ und G*tt zweifelt man nicht an. Vielleicht sollte eins noch erwähnen, dass es schon in der griechischen Philosophie die Diskussion um den „gerechten Tyrannenmord“ gibt, auch im Römischen Recht ist dieses „Recht auf Widerstand“ festgeschrieben. In der Aufklärung wird dieses Recht vor allem beim englischen Philosoph John Locke festgeschrieben, („Das Volk soll Richter sein“), auf den sich die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung explizit beruft.

All das ist dem russischen Selbstverständnis fremd, um nicht zu sagen wesensfremd. Vielleicht mögen die Russen ja deshalb Kant, weil dieser das Recht auf Widerstand ablehnt. Egal, heute steht es in der deutschen Verfassung, für einen gläubigen orthodoxen Russen ist das hart an der G*tteslästerung.

Die meisten Eurasisten kamen im Gulag um, nur Trubezkoj starb 1938 in Wien.

Ab den fünfziger Jahren entwickelte der Geograph und Turkologe Lew Gumiljow die eurasistische Ideologie im Untergrund weiter. Durch die Aufnahme biologistischer Elemente entfernte sich Gumiljow aber von den klassischen Eurasiern. Seine Idee von einer Wiederherstellung eines Bündnisses zwischen Slawen und Steppenvölkern fand erst nach Perestroika und der Auflösung der UdSSR Verbreitung.

Warum erzähle ich das alles hier? Ganz einfach: Weil die Eurasisten heute keine fringe-Bewegung mehr sind, sondern im Zentrum der Macht sitzen, und zwar mit dieser Person: Alexander Dugin.

Dugin ist Mitglied des innersten Zirkels um Wladimir Putin und sein spiritueller Beichtvater. Seit den frühen Neunzigern vertritt er eine Art Neu-Eurasianismus. Im Gegensatz zur zentralen These des klassischen Eurasismus, dass es einen dritten Kontinent „Eurasien“ zwischen Europa und Asien gebe, versteht Dugin „Eurasien“ als Europa und Asien. In Anlehnung an Thiriarts Idee von einer Pax Eurasiatica plädiert Dugin für ein eurasisches Imperium von Dublin bis Wladiwostok unter der Führung Russlands, weil, so Dugin, „die wahren, geopolitisch gerechtfertigten Grenzen Russlands bei Cadiz und Dublin liegen und Europa dazu bestimmt ist (…) der Sowjetunion beizutreten“. Alle Eurasier, auch Dugin, haben die bipolare Weltsicht gemeinsam, dass „Eurasien“ einem Hauptfeind gegenüberstünde. Der Unterschied ist, dass klassische Eurasier das „romanogermanische Europa“ als Gegner ansahen, wohingegen Neo-Eurasier sich einen Kampf vorstellen zwischen hierarchisch organisierten „eurasischen“ Landmächten unter der Führung Russlands und liberalen „atlantischen“ Seemächten unter der Führung der USA. Europa wird laut Dugin von den USA okkupiert und Russland müsse die Rolle des Befreiers annehmen. Der Erfolg „Eurasiens“ hänge von der Wiedergeburt des imperienbildenden russischen Volkes ab. In Dugins apokalyptischer Weltsicht steuere diese jahrhundertealte Gegnerschaft zwischen Land- und Seemächten auf einen „Endkampf“ zu. (Ragnarök?)

Dugin beruft sich dabei nicht nur auf die traditionelle eurasistische Bewegung, sondern auch auf Vertreter der westeuropäischen Neuen Rechten wie Jean-François Thiriart und Alain de Benoist, die Traditionalisten René Guénon und Julius Evola, Vertreter der Konservativen Revolution wie Carl Schmitt und Geopolitiker wie Karl Haushofer.

Ich lasse das jetzt einmal alles so stehen.

Was ist, wenn alles genau nach Plan verläuft?

Bis jetzt scheinen die Ukrainer unglaublich viel Glück gehabt zu haben, neben großer Tapferkeit und guter Planung. Vor allem die offenbar angestrebte Einkesselung Kiews scheint völlig zum Erliegen gekommen zu sein. Kriegsglück? Oder war es Zufall? Was ist, wenn es genau nach Plan verliefe, nur eben nicht Putins? Eine These.

Könnt ihr euch noch an Tag zwei der russischen Invasion in der Ukraine erinnern? OK, es ist fast schon einen Monat her, aber ganz am Anfang des Krieges bildete sich dieser mysteriöse Konvoi von rund 65 km Länge in Nord-Südrichtung zwischen der bielorussisch-ukrainischen Grenze und der Hauptstadt Kiew. Es dauerte mehrere Tage, bis er auf seine gesamte Länge anwuchs, und er stand ziemlich unübersehbar mitten auf der Landstrasse.

Ein offensichtliches Ziel für einen Angriff der Ukrainer, der aber nie kam. War das ein taktischer Fehler? Meiner Meinung nach ja, aber der von Putin. Von der ukrainischen Seite her war es ein strategisch genialer Zug.

Moment: Ich argumentiere das gleich.

Der Angriff auf Kiew am 24. Februar erfolgte nach einem Plan wie bei einer Schularbeit auf der Militärakademie. Sieben Divisionen mit jeweils zehntausend Mann griffen gleichzeitig auf breiter Front an. Geplant war, per Luftlandetruppen den Flughafen eines Ortes namens Hostomel einzunehmen, das ist ein nördlicher Vorort von Kiew, ungefähr so wie Klosterneuburg zu Wien, nachdem dort die Antonow-Werke sind, gibt’s da einen tip-top ausgebauten Militärflugplatz.

Es begann damit, dass die Ukrainer die Einnahme durch Luftlandetruppen vereitelten, verlustreich, aber sie haben es geschafft, Hostomel ist noch immer unter ukrainischer Kontrolle. Anschließend, ungefähr eine Stunde Fahrzeit von Hostomel entfernt, geriet der Konvoi ins Stocken und fuhr sich fest.

Dieser Konvoi war der Nachschub für die rund siebzigtausend Soldaten mit ihren gepanzerten Manschaftswagen und den fetten T80 Tanks. Russische Technik ist bekannt für ihre Robustheit, aber nicht für Sparsamkeit beim Sprit. Ein T80 verfährt an einem Tag locker rund 2.500 Liter Diesel, soviel passen denn auch in seinen Tank. In einen BMP3 Manschaftswagen gehen 700 Liter hinein, die reichen auch nicht viel länger. Alles in allen waren da ca 7.000 Fahrzeuge unterwegs, und zwölf Kilometer vor Hostomel, bei einem Ort namens Irpin, ging ihnen der Sprit aus, im wortwörtlichen Sinn.

Wohlgemerkt: Das war die Speerspitze des Angriffs. Der Konvoi war der Nachschub.

Aleine an Sprit braucht der ganze Setup – alle sieben Divisionen – vier bis sechs Millionen Liter Diesel pro Tag, schätzen wir einmal konservativ, das entspricht einem Zug mit 70 Tankwaggons, oder eben einem langen Konvoi an Tank-Lkw. Dazu noch Munition, und nicht zuletzt Verpflegung für die Truppe.

Hier ist den Russen, entweder Putin oder eher einem der jetzt unter Hausarrest gestellten Generäle, meiner Meinung nach ein schwerer taktischer Fehler unterlaufen, indem alle Nachschubeier in einen Korb gelegt wurden, sozusagen. Verständlich, wenn eins bedenkt, wie der Rest des Plans aussah: Die Bevölkerung würde zusehen, fallweise freundlich jubeln respektive sich befreit fühlen und die Armee kaum bis keinen Widerstand leisten, der Flughafen Hogomel wird die Basis, von dort wird die Umzingelung der Stadt Kiew eingeleitet, alles aus dem Lehrbuch. Wie in einem Manöver. Und da braucht man jetzt nicht mehrere Nachschubwege einrichten, da ist schon einer organisatorisch schwierig, und überhaupt. Anschließend fangen wir die Regierung ein und setzen eine neue, uns freundlich gesinnte ein, und in drei Wochen sind wir wieder zuhause. Zumindest in diesem Stil scheint das alles geplant gewesen zu sein.

Und jetzt kommt der geniale Zug: Die Ukrainer griffen den Konvoi nicht an. Sie verhinderten lediglich, dass er tatsächlich ankam aka dass der Nachschub durchkam. Wobei es die Russen wirklich probiert haben, mindestens sechs Tage lang. Sie brachten sogar eine fahrbare Pontonbrücke mit. To no avail, wie der Franzose sagt: Es war alles umsonst. Und bis heute, drei Wochen nach Kriegsbeginn, ist die Einkesselung nicht gelungen. Passend dazu hier der Twitterfaden meines journalistischen Kollegen Tomi Ahonen, der das alles akribisch rechechiert hat. Und hier eine Reportage von den Kollegen des Wall Street Journal mit den Special Forces der Ukraine im Norden der Hauptstadt.

Ihr kennt sicher den Witz: Vater und Sohn Stier kommen über den Hügel und sehen eine Herde friedlich grasender Kühe. „Papi, Papi, komm lass‘ uns schnell hinunterlaufen und eine Kuh bumsen!“ „Nein, mein Sohn. Lass uns ganz langsam hinuntergehen und eine nach der anderen bumsen.“ Genau so gingen die Ukrainer vor, nämlich langsam, aber zielgerichtet.

Während einer ganzen Woche ließen die Ukrainer den Konvoi ein wenig vorrücken, aber nie ans Ziel kommen, was bedeutet, der in diesem Konvoi gebundene Nachschub hat die russische Truppe nie erreicht. Ich lehne mich jetzt ein wenig aus dem Fenster und behaupte: Das war Absicht. Hätten die Ukrainer den Konvoi am ersten Tag angegriffen, hätten die Russen zwar den Konvoi verloren und damit den Nachschub, aber wären anschließend sofort dazu über gegangen, einen neuen zu organisieren, diesmal möglicherweise nicht alles auf einmal, und die Panzerspitzen hätten noch rechtzeitig mit Treibstoff und Munition versorgt werden können. So aber war der russische Generalstab offenbar der Meinung, der Nachschub wäre ja ,,eh schon fast da“ und wozu einen neuen organisieren. Erst nach drei Tagen begann die russische Seite, neue Lkw zu organisieren. Die dazu notwendigen rund 200 Lkw mussten aus verschiedenen Armeebasen zusammengeholt werden und anschließend in den Süden von Weissrußland fahren, das dauert noch einmal zwei Tage. Und beim erstklassigen Servicezustand russischer Armeehardware kam ein erklecklicher Teil der Lkw erst einmal gar nicht an, sondern blieb auf der Fahrt irgendwo liegen.

Die angreifenden Divisionen mussten in der Zwischenzeit einerseits Sprit sparen und hatten andrerseits wenig Munition und konnten daher weder agil kämpfen noch die Einkesselung von Kiew vervollständigen. Zwar flogen Hubschrauber die dringendsten Dinge ein, aber es reichte nicht für eine Offensive.

Der ursprüngliche Plan hätte einen permanenten Shuttle mit schweren Lkw zwischen der bielorussischen Basen und der neu zu errichtenden Basis auf dem Flughafen der Antonov-Fabrik vorgesehen. Mangels dieser Basis brach der Angriff auf die Hauptstadt mehr oder weniger zusammen.

In der Zwischenzeit taten die Ukraïner das, was sie offenbar am besten können: Sie führten einen Abnützungskrieg, und das relativ erfolgreich. Die russischen Truppen, fast durchwegs blutjunge Rekruten, begannen, ohne Treibstoff und Munition, ihre Panzer und Kampfwagen einfach stehen zu lassen und liefen davon. Auch waren die Ukrainer sehr erfolgreich im Umgang mit von der Schulter abzuschießenden, also tragbaren, Waffen sowohl gegen Fahrzeuge als auch gegen Helikopter. Per heute, also knapp drei Wochen nach dem Einmarsch, meldet die Ukraine: ,,Seit Kriegsbeginn … betragen die gesamten Kampfverluste der russischen Invasoren 14.200 Mann, 450 Panzer und 93 Flugzeuge.“ Daneben verloren die russischen Kräfte – so die Ukraine – 1.448 gepanzerte Kampffahrzeuge, 205 Artilleriesysteme sowie 72 MLRS (Multiple Launch Rocket System aka Stalinorgeln), heißt es weiter. Und: ,,Darüber hinaus zerstörten die (ukrainischen) Streitkräfte 43 feindliche Luftverteidigungen, 93 Flugzeuge, 112 Hubschrauber, 879 Fahrzeugeinheiten, 3 Schiffe / Boote, 60 Treibstofftanks, 12 UAV (Drohnen) auf operativer und taktischer Ebene sowie 11 Einheiten mit Spezialausrüstung.“ Nachzulesen hier. OK, was davon tatsächlich wahr ist, lässt sich jetzt nicht wirklich nachprüfen. Aber aus verschiedenen Quellen (Geheimdienste der USA und der Briten) hört man ähnliche Dimensionen, so in der Richtung könnte es schon stimmen.

Das muss man sich mal geben: 14k Tote alleine auf russischer Seite. Wenn das stimmt, hat Putin in drei Wochen in der Ukraine fast so viele Soldaten verloren wie die UdSSR in acht Jahren Afghanistan (dort waren es rund 17k). Das kann auch er nicht lange durchhalten.

Bislang jedenfalls haben die Russen – bis auf einmal, nach der ersten Woche – keine Verlustzahlen bekannt gegeben.

Auf Oryx, einem aus den Niederlanden betriebenen Website, kann eins es auch auf Englisch nachlesen, so eins des Kiryllischen nicht mächtig ist. So erfahren wir dann, dass rund die Hälfte der Fahrzeuge erbeutet respektive verlassen vorgefunden wurde, das sind die berühmten ukrainischen Bauern, die mit ihren Traktoren gefilmt wurden, als sie aufgegegebene T72 einfach wegschleppten.

Die Taktik der Russen ist immer gleich: Eine Stadt einkesseln, sich erst gar nicht auf einen Häuserkampf einlassen, sondern sie mit Raketen und Artilleriebeschuss sturmreif schießen, bis sie aufgibt oder einfach zu existieren aufhört. So war es in Grosny, der tschetschenischen Haupstadt, so war es im syrischen Aleppo (ich könnte heute noch heulen, das war so eine schöne Stadt. Und 4000 Jahre alt. Diese Barbaren), und genau so machen sie es derzeit mit Mariopol. Und so wollten sie es auch in Kiew machen. Und deshalb schießen sie jetzt in Kiew, und im Südosten, wo sie sich auch festgefahren haben, alles kurz und klein, möglicherweise im Versuch, das Kriegsglück doch noch zu erzwingen.

Ich lehne mich jetzt weiter aus dem Fenster und behaupte: Das war auf der ukrainischen Seite von Anfang an der Plan.

Ich weiß, muss nicht sein, Kriegsglück, Zufall, blah blubb. Aber ich glaube nicht an Zufälle, vor allem nicht an so viele auf einmal. Die ukrainische Armee hat in den sechs Jahren seit dem Donbas deutlich dazu gelernt, sie wurde von britischen und US-Spezialeinheiten trainiert, sie werden mit Aufklärung und infosec von den USA und der Nato unterstützt, aber am Ende des Tages sind sie, zumindest auf dem Papier, den russischen Invasoren hoffnungslos unterlegen. Das muss auch, von Anfang an, Zelenski und seinem Generalstab bewusst gewesen sein. Auf der anderen Seite haben die Mehrheit von ihnen selbst in der russischen Armee (oder halt in der Roten Armee der UdSSR) gedient, sie kennen ihre Gegner gut, und sie kennen deren Schwächen. Ich halte es für durchaus realistisch, dass das von seiten der Ukraine von Anfang an als einzig mögliche Verteidigungsstrategie geplant war, und sie scheint glorios aufgegangen zu sein. Die Schlacht um Kiew hat Putin verloren und Zelenski gewonnen. Eine taktische Meisterleistung, Chapeau.

Und wenn sie das geplant hatten, dann haben sie auch für den Rest noch einen Masterplan. Ich lehne mich jetzt ganz weit aus dem Fenster und sage: sie werden diesen Krieg gewinnen. Es wird sie unsäglich viele Leben kosten, vor allem zivile, denn die Russen werden noch ein Massaker anrichten, aber die Ukrainer werden gewinnen. Denn Putin wird nicht nachgeben, er wird das durchstehen. Bis zum bitteren Ende.

Keine Ahnung, wie das aussehen wird. Wenn ich mir jetzt schon den Mund verbrenne, dann behaupte ich, Putin wird verlieren, sich zurückziehen und deutlich geschwächt sein auch in seiner Position nach innen. Und länger als zwei, drei Jahre wird er sich nicht halten können.

Wie das alles geschehen wird? Keine Ahnung. Wird er Atomwaffen einsetzen? Meine Kristallkugel ist gerade in der Reinigung. Wird es einen Weltkrieg geben? Wahrscheinlich nicht. But who knows.

Jetzt ist euch schlecht? Mir ist schon lange schlecht. 105 Kinder sind bis jetzt im Bombenhagel gestorben. Hundertfünf. Kleinkinder. Babies. Kinder. Djeca. дітей. Hundertfünf Söhne und Töchter. Ich geh‘ jetzt in meinen Polster schreien …

Wir leben in interessanten Zeiten.

слава україні

Putins Potemkin

Ich hab es nicht so gerne, wenn ich mit meinen Dystopien so weitreichend Recht bekomme. Und was den Ukraine-Konflikt betrifft: Ab jetzt lohnt es sich, in Tagesabständen zu posten. Zum Beispiel jetzt.

Es tut mir leid, aber ich muss schon wieder posten. Denn es ist heute der siebente Tag der russischen Invasion in der Ukraine, und es läuft überhaupt nicht so, wie sich der kleine Wladi im Moskauer Kreml vorgestellt hat.

Denn je länger diese Invasion dauert, desto mehr bekomme ich den Eindruck, dass diese mächtige russische Armee eigentlich überhaupt nicht existiert. Sie ist eine Art potemkin’sche Armee, sie hat zwar Panzer und Lkw und schweres Gerät, aber sie tut nicht so, wie klein Wladi will.

Von allen Seiten kommen die Berichte, und es können nicht alle nur ukrainische Agitprop sein. Ich hab ja insgesamt mehrere Jahre in Russland gearbeitet, teils noch in der UdSSR, teilweise schon nach der Revolution, und ich kenne russischen Schlendrian und Make-do. Und es hat schon seine Gründe, warum man bei uns (vor allem in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone) etwas, das wirklich nur so irgendwie hingepfuscht wurde, als ,,russisch“ bezeichnet. Und die jüngsten Berichte aus der Ukraine passen da tadellos dazu.

Da gibt es den Thread auf Twitter von einem ehemaligen US-Soldaten, dessen Job es 20 Jahre lang war, sich um die Reifen von schwerem Offroad-Equipment zu kümmern. Quintessenz: Derartiges Gerät muss mindestens einmal pro Monat bewegt werden, sonst werden die Seitenwände der Monsterreifen mürbe. Und sie sollten auch nicht allzu viel in der Sonne stehen, weil UV-Licht macht die Mischung ebenfalls mürbe. Und nach den Bildern aus der Ukraine, auf denen man genau erkennt, dass es den russischen Radwaffensystemen im Gatsch der Ukrainischen Felder einfach die Reifen von den Felgen zieht (https://twitter.com/TrentTelenko/status/1499164245250002944), könne man eindeutig sagen, so besagter US-Soldat: Diese Lkw wurden mindestens ein Jahr lang überhaupt nicht gewartet.

Und ein weiteres Posting spricht davon, dass besagter Reifen ein billiger chinesischer Nachbau sei, mit dem man allenfalls auf der Strasse fahren könne, aber nicht im Gelände.

Rasputitsa heisst die Zeit, in der der Boden auftaut. Es ist zwar erst März, aber der Klimawandel lässt grüßen. Erst taut natürlich die Oberfläche, während der Untergrund noch gefroren ist. Resultat: Das Wasser kann nicht ablaufen und es entsteht ein Meer an Schlamm, in dem schon ganze Armeen, von Napoleons Garde bis zu Hitlers Wehrmacht, versunken sind. Und jetzt halt Putins Armee. Es gibt auch Bilder von schweren Panzern in tiefem Gatsch, aufgegeben, wobei nicht ersichtlich ist, ob der Sprit ausging oder der Kettenantrieb nicht mehr gegriffen hat.

Als Treppenwitz der Weltgeschichte darf gelten: Genau das ist der Roten Armee auch passiert, im finnischen Winterkrieg 39/40. Dort konnten die schweren Fahrzeuge der Sowjets auch nur auf den (wenigen) Strassen bewegt werden, während die finnischen Soldaten auf Langlaufski von überall her angreifen konnten. Eins hätte geglaubt, dass Onkel Wladimir, der ja dauernd die Geschichte zitiert, aus ihr auch gelernt hätte. Aber Pustekuchen.

Die gesamte russische Armee greift also die Ukraine in der Breite von drei Kamaz-Lkw an. Mehr gehen nebeneinander nicht auf eine asphaltierte Strasse, und im Gelände … leider sind uns die passenden Reifen abhanden gekommen, Genosse, ja ich weiss auch nicht wie, ja es ist eine Schande, dass auch in Russland alles gestohlen wird, was nicht bei drei auf den Bäumen …

Es gibt noch andere Berichte, nach denen es in Wirklichkeit keinerlei übergeordnete Koordination des Einmarsches gibt. So hätten etwa bei den Panzerverbänden nur die jeweiligen Kommandanten eine Funkverbindung zum Gefechtsstand, und die reisse oft ab, weil die Entfernungen so groß sind. Auch würden die Panzerkolonnen ohne begleitende Infanterie vorstoßen, so dass einzelne Panzer plötzlich auf der ukrainischen Tiefeben zu leichten Zielen würden. Das ganze habe, so eine Beurteilung durch den britischen Geheimdienst, den Organisationsgrad eines schlechten Manövers und sei von einem tatsächlichen Krieg in etwa so weit entfernt wie eben Kiew von Moskau.

Anderen Berichten zufolge haben die russischen Verbände zu wenig Proviant bzw. seien die Proviantpakete, mit denen die Russen ausgestattet wurden, vor fünf Jahren abgelaufen. (https://t.me/voynareal/11169) Es habe schon erste Plünderungen gegeben, hauptsächlich für Essen. Und das erste, was gefangene russische Rekruten bekommen, ist ein heißer Tee und etwas zu essen. Und dann lässt man sie ihre Verwandten anrufen. Nicht gut für die russische Propaganda.

Es wäre eine logische Erklärung dafür, warum die Russen nicht weiter vorstoßen bzw. ,,den Sack um Kiew zumachen“, wie uns die p.t. Strategen allabendlich im Fernsehen erklären: Sie haben keinen Sprit. Der 60-km-Kolonne an schwerem Kriegsgerät vor Kiew ist schlicht und ergreifend der Diesel ausgegangen … ganz kann ich das ja noch immer nicht glauben. Aber ukrainische Freunde versichern mir, es sei noch viel absurder, als es klinge.

(Ganz abgesehen davon, dass das russische Gerät ja nicht offroad kann. Also wird am Anfang sowie am Ende des 60-km-Konvois ein bissi was putt gemacht, und feddich. Ende Gelände. Der Konvoi ist neutralisiert, wie ein Stau auf der Tauernautobahn im Juli. )

Ukrainische Freunde erzählen mir ebenfalls, den Russen ginge auch die Munition aus. Also sind sie frustriert, auch weil ihnen bewusst wird, das das noch alles sehr unangenehm werden könne, also ballern sie wie die Blöden auf alles, was sie erreichen können, und nehmen dabei weniger und weniger Rücksicht auf Zivilisten und Kindergärten und so lästiges Zeux. Auch der ORF-Korrespondent Wehrschütz erwähnte am Mittwoch, die Zerstörungswut der russischen Truppen auch von zivilen Objekten nehme deutlich zu.

Dabei sind die ganz schweren Hämmer in Russland ja noch gar nicht gefallen. So fliegen so gut wie alle Fluggsellschaften in Russland westliche Maschinen, von Boeing über Airbus bis Embraer. Und mit den Sanktionen kommen auch keine Ersatzteile mehr. Die meisten Airlines haben so für einen Monat Teile. Aber längst sind die komplexen Handbücher für’s Service online, und die sind schon jetzt nicht mehr erreichbar. Auch die Motoren der Maschinen, von RR bis GE und Pratt&Whitney, sind in Echtzeit mit ihren Lieferanten im Westen verbunden. Wahrscheinlich können die Russen ihre Westmaschinen schon jetzt nur mehr per Hack starten … und auch die alten Tupolews und Iljuschins sind schon verschrottet oder hergeschenkt und vor allem auch hier gibt’s keine Teile mehr. Weil – hehe – die Mehrheit der sowjetischen Flugzeugindustrie in – erraten – der östlichen Ukraine war.

In einem Land so groß wie Russland nicht mehr fliegen zu können, ist eine absolute Katastrophe. Und im europäischen Teil kann eins ja zur Not auch noch per Zug fahren (obwohl russische Züge kein Vergnügen sind. BTDT). Aber jenseits des Ural ist da schlagartig aus, Städte wie Perm oder Novosibirsk sind ohne Flugzeug praktisch nicht erreichbar. (Ja, im Winter, per Lkw, wenn der Boden gefroren ist. You gotta be kiddin …)

Jedenfalls hatte die Aeroflot am Donnerstag (laut flightaware.com) zwei Flüge draussen: Einen auf den Malediven, einen auf den Seychellen. Das wird auf die Dauer nicht reichen.

Apple und Microsoft haben ihre Dienste eingestellt, aber auch SAP und HP und Oracle. Mercedes, Volkswagen, Ikea … you name it, alle haben Lieferstop. Wenn dem russischen Mittelstand, so klein er ja auch sein mag, auffällt, wohin ihn Väterchen Wladimir da führt, wird er aber nicht zufrieden sein.

Wenn die Ukrainer noch ein bisserl aushalten, so lange, bis den Russen tatsächlich die ganze Luft ausgeht … wobei: Keine Ahnung, was ER macht, wenn’s wirklich eng wird.

Mit wird schlecht.

Nur meinen ukrainischen Freunden scheint es gut zu gehen. Sie sind gefasst und siegesbewusst. Und ich bin langsam geneigt, es tatsächlich zu glauben: Putin wird diesen Krieg verlieren.

Das wird alles noch sehr schrecklich werden. Aber, kleiner Trost zum Schluss: Den Winterkrieg haben die Finnen auch gewonnen. Sie haben einen hohen Blutzoll bezahlt, aber sie haben gewonnen.

Slawa Ukraini

Putin hat sich verkalkuliert.

Der Machthaber im Moskauer Kreml hat sich bei der Invasion der Ukraine offenbar gründlich verkalkuliert. Ob das jetzt besser oder schlechter für Europa ist, wird sich noch herausstellen. Ein Faktencheck.

Jetzt ist es Samstag nachmittag am 26. Februar 2022, zwei Tage nachdem der russische Präsident Wladimir Putin den Befehl zum Einmarsch auf ukrainisches Staatsgebiet gegeben hat (an meinem 70. Geburtstag. Kein schönes Geschenk.) Und so wie es aussieht, läuft es nicht so rund in der Ukraine, zumindest nach den Vorstellungen des russischen Machthabers.

Ja, ich weiß, die sozialen Medien sind jetzt voll mit Russlandspezialisten und Putinerklärern, nachdem die Fachleute für Immunologie und Seuchenbekämpfung aus der Mode gekommen sind. Ich will es dennoch versuchen, schließlich habe ich auf diesem Blog hier und hier schon vor acht Jahren über den Ukrainekonflikt geschrieben.

Putins Weltbild wurde vor 1992 geprägt, da war die Sowjetunion zwar schon teilweise disfunktional, aber sie bestand, und die Ukraine war ein fixer Bestandteil von ihr. Zu der Zeit war ich zweimal in Kiev, da sprach man dort mehrheitlich Russisch, und im Donbas sowieso, Ukranisch, also das altösterreichische Ruthenisch, sprachen allenfalls die Bauern in den Karpaten oberhalb Lembergs, draussen im Westen. Und von einem ukrainischen Nationalismus oder einem Nationalbewußtsein oder irgendetwas dieser Art war weit und breit nichts zu sehen oder hören. So disfunktional war die UdSSR schon geworden, dass wir uns relativ frei bewegen konnten, es wäre uns aufgefallen.

Dass Putin die Ukraine zurück haben will, war eigentlich immer klar. In seinem letzten TV-Auftritt hat er das auch argumentiert. Was Stalin nach dem Weltkrieg so westlich angeflanscht hatte, die Ostkarpaten und Lemberg und so, das gehört sowieso nicht dazu. Also stellt er sich eine geteilte Ukraine vor, mit Lemberg im Westen, als Satellitenstaat, und der Rest gehört zu Russland. Darauf plant er seit Jahren hin, das kann er jetzt endlich durchführen, darum macht er es. Jetzt.

Beharrlich hat Russland seine Armee wieder aufgerüstet und hat auch Erfolge gehabt: In Georgien, in Syrien, in Tschetschenien. Auch die Besetzung der Krim 2014 ging reibungslos und ohne einen Schuss, wahrscheinlich dachte Putin, das könnte vielleicht jetzt auch so gehen.

Offenbar hat er dabei übersehen, dass seit 1992 sehr viel Wasser auch den Dnjepr hintergeflossen ist, die Ukrainer von heute sind nicht mehr die von 1992. Damals waren es Sowjetbürger, man war vereint in seinem Elend und in seiner Sehnsucht nach mehr Berioska und westlichem Luxus, und ob man Russe oder Ukrainer war, war völlig schnurz. Und wer regierte, ebenfalls, am Ende war es immer die Partei.

So dämlich das aus heutiger Sicht auch klingen mag, damals war man im Osten ja überzeugt, für Freiheit und Sozialismus zu sein, man war auf dem richtigen Weg, holprig zwar, aber die Ideologie vereinte die Sowjetbürger, sie gab ihnen etwas, an das sie glauben konnten. Putin und seine Clique haben keine Ideologie, es geht ausschließlich um Macht, Korruption und Ausbeutung. Und dafür werden sich die Ukrainer nicht begeistern lassen, schließlich haben sie seit Maidan 2014 tatsächlich so etwas wie eine Demokratie, mit einer lebhaften Presse und einem offenen gesellschaftlichen Diskurs.

Geplant war offenbar, in einer Kommandoaktion Kiev zu besetzen, die demokratisch gewählte Regierung gefangen zu nehmen oder zu töten und eine Marionettenregierung einzusetzen, egal, irgendwer findet sich da immer. Möglicherweise haben die Russen erwartet, sie würden einfach die Stadt übernehmen, so wie die Taliban Kabul, weil bürgerliches Bewusstsein und Willen zum Widerstand kennt Putin offenbar nicht.

Der Plan ging bisher nicht auf, weder ist Kiev gefallen, noch ist die Regierung geflohen, im Gegenteil, Präsident Selenski posiert wehrhaft im TV und ruft zum Widerstand auf und wird über Nacht zum Nationalhelden, flankiert vom Boxweltmeister und nunmehrigem Kiever Bürgermeister Witali Klitschko. Und die ukrainische Armee von 2022 ist nicht mehr die von 2014, die ein paar Aufständische, mit Hilfe kleiner grüner russischer Männchen, vor sich her treiben konnten. Sicher, am Ende sind die Russen noch immer haushoch überlegen, auf dem Papier zumindest, aber in Zeiten der assymetrischen Kriegsführung zählt das alles nicht. Und auf einen langwierigen Häuserkampf ist die russische Armee nicht trainiert. Dazu besteht sie zu großen Teilen aus konskribierten Rekruten, unterbezahlt, unmotiviert und undiszipliniert. Die ersten Plünderungen durch russische Soldaten soll es schon gegeben haben.

Bedeutet: Wenn das nicht schnell vorbei ist und die Russen die Oberhand gewinnen, wird’s komplex. Dann leiden die Russen, die ja wirklich nicht die Weltmeister in Logistik und Organisation sind, nicht nur an schweren Nachschubproblemen, sondern der Kreml muss den eigenen Leuten auch die Toten erklären, die dann unvermeidlich sind, wenn die Ukrainer sich weiterhin so wehren, wie sie es bisher tun. Weil innenpolitisch wird das ja als Polizeiaktion verkauft, man ,,entnazifiziert“ jetzt endlich mal den Nachbarn, und das Brudervolk wird jubeln. Dass das Brudervolk zurückschießt, stand nicht im Drehbuch.

Die ersten Interviews mit gefangenen russischen Soldaten zeigen ahnungslose Rekruten, die nicht wissen, auf wen sie schießen sollen und vor allem warum. Vielleicht ist es ja auch eine Propagandafinte, damit sie der ukrainische Volkszorn nicht zerreisst; dass die Ukainer ihre Gefangenen ordentlich behandeln, kommt im russischen Erwartungskataster auch nicht vor. Oder so. Rührend auch Szenen, wo alte Frauen auf russisch die Soldaten beschimpfen. Oder die Panzerbrigade, der der Sprit ausgegangen ist, von Zivilisten auf dem Handy gefilmt ,,Wir können euch nach Russland zurückschleppen, wenn ihr wollt“, wer weiß, was davon Agitprop ist und was echt.

Echt ist aber offenbar, dass der rasche ,,Enthauptungsschlag“ aka die Einnahme der Hauptstadt Kiew nicht so funktioniert hat wie geplant respektive bis jetzt überhaupt nicht funktioniert hat. Die Soldaten der ukrainischen Armee sind hoch motiviert und kämpfen um ihre Heimat, das zeigt Wirkung. Jetzt, am Sonntag vormittag, melden die Agenturen: Kiew noch immer nicht gefallen, Charkiv im Norden wieder freigekämpft.

Das muss sich eins auf der Zunge zergehen lassen: Die Russen hatten die Stadt schon eingenommen. Und die Ukrainer haben sie wieder hinausgeworfen. Chapeau.

Putin ist auch bekanntermassen nicht so ein IT-Freak aka er ist der Sache gegenüber ziemlich mißtrauisch. Offenbar zu Recht, weil er hat offensichtlich das Internet nicht verstanden. Seine Kontrolle über die Medien umfasst nur so Dinge wie Fernsehen oder Printprodukt. Ja, die russische bot-Armee müllt uns imWesten die Foren zu, aber daheim kann die russische Zensur nicht verhindern, dass junge Russinnen und Russen ausländische Nachrichtenkanäle via Netz konsumieren. Konsequenterweise haben die Ukrainer eine Seite aufgemacht, auf der sie Namen und Bilder gefangener sowie gefallener russischer Soldaten veröffentlichen. Als Service an die Verwandten, sozusagen. Netter Nebeneffekt: Es demoralisiert die Truppe.

Scherz beseite: Klar ist das ein Propagandacoup. Aber es passt auch schön, sagen zu können, seht her, hier sterben eure Söhne, und ER sagt es euch nicht. Mal schauen, was das in den kommenden Tagen bringt. Angeblich hat die russische Armee fahrbare Krematorien mit dabei, damit nicht so viele Body Bags in die Heimat zurückgebracht werden müssen.

Die russischen Zensurbehörden haben am Samstag russischen Medien die Benutzung der Worte Нападение (Offensive), Вторжение (Invasion) und Война (Krieg) explizit verboten. Dennoch setzt sich auch bei den Mütterchen in Russland langsam die Ansicht durch, dass dies keine kurzfristige Befreiungsaktion ist, sondern ein richtiger Krieg, mit toten Söhnen und Brüdern und Bildern von bombardierten Kindergärten und so.

Hut ab übrigens vor dem Mut, offen innerhalb Russlands gegen den Krieg aufzutreten. Meine uneingeschränkte Hochachtung.

Mal schaun, wie das weitergeht. Wenn Putins befreundete Oligarchen nicht mehr zu ihren Superyachten fliegen können und ihre Frauen keine Gucci-Klunker mehr bekommen. Und, wie gesagt, wenn der russischen Öffentlichkeit bewußt wird, dass das keine Polizeiaktion ist, sondern ein blutiger Invasionskrieg. Der, im übrigen, nicht so einfach zu gewinnen sein wird, wenn überhaupt. Warten wir doch, bis am Montag die Moskauer Börse ins Bodenlose fällt. Und dass Putin draufkommt, dass seine 850 Mrd. Dollar Devisenreserven praktisch wertlos sind, weil wenn er nicht mehr in SWIFT drin ist, wo – und vor allem technisch wie – will er sie denn ausgeben? Er kann Gold verkaufen (lassen), geht aber auch nicht so auf jetzt und hier. Alles sehr spannend.

Selbst das von mir so geliebte ,,Law Of Unintended Consequences“, das Gesetz über nicht beabsichtige Folgen der jeweiligen Aktionen, schlägt hemmungslos zu: Genau das, was Putin nicht will, zementiert er mit seinem Krieg dauerhaft ein: Ein ukrainisches Nationalbewusstsein, das alle, auch die Russischstämmigen, plötzlich zu einer neuen Nation zusammenschweisst. Ups, war nicht beabsichtigt …

Was Väterchen Wladimir allerdings macht, wenn er seinen Arsch wirklich eingezwickt bekommt, und ob er dann nachgibt oder ins atomare Körbchen greifen wird …

Wir leben in aufregenden Zeiten.

Slawa Ukraini.

Netzpolitischer Abend 4.6.20 Linkliste

Ursprünglicher post auf der c3w Seite:
https://c3w.at/posts/2020/gesellschaftliche_aspekte_contact-tracing-apps/

Weiterführende links:

https://netzpolitik.org/2020/was-deutschland-von-der-welt-lernen-kann/#spendenleiste

https://www.wired.com/story/the-success-of-contact-tracing-doesnt-just-depend-on-privacy/

https://www.economist.com/leaders/2020/05/16/dont-rely-on-contact-tracing-apps

https://www.apple.com/covid19/contacttracing

Verschwörungstheorien … frische Verschwörungstheorien … schöne neue Verschwörungstheorien


Meine Blogpostings seien zu lang, hat man mir gesagt. Ich schweife zu sehr ab. Also gut, heute ganz ohne Einleitung.

Es ist jetzt Sonntagabend, der 19. Mai 2019. Anlässlich des Endes des Kabinetts Kurz I mit dem mittlerweile sattsam bekannten Ibiza-Video stehen eine Reihe von Fragen im Raum, die eine Reihe von Verschwörungstheorien – äh – mit sich bringen.

Hier ist eine lose Zusammenfassung, per heute und hier, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, Sinnhaftigkeit oder sonst irgend etwas erhebt.

Ich nenne auch ganz bewusst keine Quellen und berufe mich jetzt mal auf den journalistischen Quellenschutz.

Ein Geheimdienst war es

Vor etwa einem Monat haben westliche Geheimdienste alle Informationsflüsse zu österreichischen Partnern abgebrochen. Das hat es in dieser Form seit 1945 nicht gegeben. Schon seit der Razzia auf den heimischen Verfassungsschutz (BVT) erzählt man sich derartiges, nunmehr hat es der Deutsche Bundesnachrichtendienst ganz offen der deutschen WELT erzählt.

Es muss ja auch nicht der BND gewesen sein, auch die französische DGSE wäre ein möglicher Kandidat. Macron hat seine eigenen Probleme mit den Rechten und fürchtet auch ihr europäisches Erstarken.

Auch den Zeitpunkt genau vor den Europawahlen (auf die Frage warum erst jetzt?) lässt sich so erklären: Das Treffen der Rechtspopulisten in Mailand war genau an diesem Wochenende, dort wäre Harald Vilimsky ein Stargast gewesen, das hat sich ja jetzt erledigt. Und wie weit es den Rechten bei der EU-Wahl schadet, wird man erst sehen. Jedenfalls hätte man so zwei Fliegen mit einem Schlag (pun intended) erwischt.

Der britische MI6 fällt da eher aus, deren Europasorgen liegen woanders.

Einige Ungereimtheiten sprechen da dagegen, zum Beispiel dass Geheimdienste üblicherweise ihre Tatorte nicht über AirB&B anmieten, aber vielleicht muss ja gespart werden. Und warum auch nicht. Auch dass das Video seit längerer Zeit zum Kauf angeboten worden sei, hört man. Das kann auch eine geschickte Verschleierungstaktik sein, Spiegel und Süddeutsche jedenfalls beschwören glaubhaft, nichts bezahlt zu haben.

Auch warum gerade Österreich, so bedeutend sind wir ja auch nicht. Warum nicht Polen? Oder Orbán? Mögliche Antwort: So leicht wäre das dort nicht gegangen, weder Orbán noch der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki regieren in einer Koalition und wären derart kompromittierbar. Und so eng ist die Zusammenarbeit mit den dortigen Geheimdiensten auch wieder nicht, während Österreich auf dem Balkan ein nicht zu unterschätzender Mitspieler ist. Außerdem ist Wien als dritter UN-Standort und traditionelles Transitland für Spione aller Art wesentlich interessanter als Budapest oder Warschau.

Zur These „Geheimdienste“ gibt noch eine

Variante

Nämlich die, dass gar nicht Strache als Vizekanzler das primäre Ziel war, sondern Johann Gudenus.

Der Junge hat während seines Jus-Studiums regelmäßig Sommerkurse an der Lomonossow-Universität in Moskau besucht und erhielt 2004 das TRKI-Russischzertifikat des Bildungsministeriums der Russischen Föderation. Gudenus hat auch die Diplomatische Akademie Wien 2005 absolviert und dabei Kurse an der Diplomatischen Akademie des Russischen Außenministeriums, einem traditionellem Ausbildungsort für russische Spione, belegt. Gudenus ist der einzige Politiker einer europäischen Regierungspartei, der seine Emails über mail.ru verschickt, er ist ein Freund des tschetschenischen Diktators Ramzan Kadyrov und er war nach der Annexion der Krim „Wahlbeobachter“ bei der darauffolgenden Abstimmung. Gudenus ist „das Trojanische Pferd Russlands in der EU“. (Zitat auf Twitter)

Unbestritten ist, dass Gudenus schlauer ist als sein Burschenschaftsvater Strache, aber beide gelten nicht als die hellsten Fackeln beim Aufmarsch der Rechten.

Und auch hier gilt: Die Kombi von Entfernung der Zielperson von der Macht und gleichzeitige Schwächung der Neuen Rechten vor der Europawahl würden auch den Zeitpunkt erklären.

Der Böhmermann war es

Schon vor einem Monat hat der Satiriker Jan Böhmermann in einem Video-Grußwort für die Verleihung des österreichischen Fernsehpreises Romy gescherzt, er hänge „gerade ziemlich zugekokst und Red-Bull-betankt mit ein paar FPÖ-Geschäftsfreunden in einer russischen Oligarchenvilla auf Ibiza“ rum und verhandle über die Übernahme der Kronen-Zeitung und ob er die Meinungsmache in Österreich an sich reißen könne. Aber darüber dürfe er „leider noch nicht reden“, so Böhmermann weiter.  Dass der Satiriker das heikle Video bereits vor Wochen kannte, bestätigte sein Manager Peter Burtz am Samstag. Er dementierte aber, dass die Aufnahmen Böhmermann angeboten worden seien. Da sie ihm nicht angeboten worden seien, habe er sie auch nicht abgelehnt. Woher Böhmermann die Aufnahmen kannte, wisse er nicht, sagte Burtz.

Zuvor hatte die Journalistin Leila Al-Serori von der Süddeutschen Zeitung im ORF erklärt, dass Böhmermann die Aufnahmen angeboten worden seien, er jedoch den Fall nicht weiter recherchiert habe.  In seiner Sendung „Neo Magazin Royal“ am vergangenen Donnerstag deutete Böhmermann sogar die Berichte über das Strache-Video an – mit den Worten „kann sein, dass morgen Österreich brennt“.

Diese Theorie ist sehr krude und wird hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Aber wer weiß? Vielleicht ist es ja doch eine Verschwörung der linken Journaille.

Die ÖVP war es

Meine Lieblingstheorie.

Es wäre zwar sehr verblüffend, wenn jemand wie der zerstrittene Haufen VP so eine Aktion auf die Reihe bekäme (und sie fast zwei Jahre geheim halten könnte), aber möglich wäre es. Der Bubenkanzler ist ein eiskalter Machttheoretiker, ihm ist es zuzutrauen, mit einigen wenigen Vertrauten die Aktion noch vor der damaligen Nationalratswahlen durchzuführen und das Resultat im Köcher zu behalten, bis man es brauchen kann.

Der Plan „Wende 2.0“ könnte aus der Feder von Wolfgang Schüssel stammen: Erst gründet man NEOS, als „linker“ aka neoliberaler Ableger der ehemals Schwarzen. Dann gewinnt man die Wahlen und geht in eine Koalition mit der FP, damit man möglichst viel Porzellan zerdeppern kann. Wenn man das Wording elegant formuliert und die Message Control nicht verliert, kann man zu einem gegebenen Zeitpunkt sich des Partners entledigen, Neuwahlen ausrufen (und aus diesen gestärkt herausgehen) und dann mit den NEOS ein gemäßigtes Kabinett II bilden, das die neoliberale Agenda, die bislang eher unbeachtet blieb, abarbeitet.

Dazu passt, dass die Villa über AirB&B abgemietet wurde und dass das Video so eine erbärmliche Tonqualität hat. Professionelle Geheimdienste hätten das technisch viel sauberer hinbekommen, das wäre heute kein Problem.

Nach der Wahlkampfrede von Samstag ist das Framing von Kurz klar: Ich konnte bislang nur mit der (bösen) FPÖ regieren (mimimi) aber wenn ihr wollt, dass ich das Land rette, müsst ihr mich jetzt noch mehr wählen.

Für eine Regierungsbeteiligung (statt der FPÖ) würden die NEOS ziemlich sicher umfallen, deshalb sollte man sie wahrscheinlich auch nicht wählen. Sorry, couldn’t resist.

Man müsste jetzt noch die Timeline genauer studieren. Zum Beispiel wurde NEOS 2013 gegründet, da war „Wende 1.0“ und dem Kabinett Schüssel II mit Jörg Haider schon 2007 in die Hose gegangen. Kurz hinwieder wurde 2008 JVP-Obmann in Wien und zog 2010 in den Wiener Landtag ein, sein erstes politisches Mandat.

Wenn die Theorie stimmt, müsste Kurz irgendwann um diese Zeit Schüssel aufgefallen sein. Wie weit der Plan von Schüssel ist und was Kurz dazu beigetragen hat, wie sehr (und wie oft) der Plan geändert wurde und wie sehr Schüssel den Bubenkanzler noch im Griff hat (so er das je hatte) und ob er heute noch gut findet, was sein Protegé so treibt, weiß ich leider auch nicht.

Müsste man alles noch recherchieren.

Da Hofa war’s

Wer profitiert innerhalb der FPÖ am meisten vom Sturz Straches? Richtig. Wäre die Variante, wo der Zeitpunkt „vor der Europawahl“ anders zu beurteilen wäre (Hofer gönnt Strache den Erfolg nicht?), dazu passt auch, dass die FPÖ-Gremien sofort Hofer als Vizekanzler-Nachfolger ins Spiel brachten, sogar ohne zu präzisieren, in welcher Ministerposition.

Dagegen spricht, dass Kurz daraufhin die Koalition aufkündigt. Vielleicht eine Fehlkalkulation von Hofer? Hofer jedenfalls wäre Kurz um einiges ebenbürtiger als Strache.

Die russische Mafia war es

Die hätte es nur für Geld gemacht. Dafür spricht das Gerücht, das Video wäre schon seit längerem zum Verkauf angeboten. Vielleicht wollte man Strache damit erpressen? Oder Gudenus? Gudenus ist Mitbesitzer eines russischen Handelshauses, von dem niemand genau weiß, womit sie handeln und wie viel Geld sie tatsächlich verdienen. Russische Mafiosi haben schon mehrmals ihre Vorliebe für seltsame Motive bewiesen.

Ich halte dieses Gerücht für eher unwahrscheinlich.

Der ORF war es

Ähnlich skurril wie der Vorwurf an die russische Mafia. Jedenfalls hätte der ORF nicht nur die technische Expertise für so eine Aktion, sondern auch konkrete Motive (die FPÖ wollte und will den ORF zerschlagen), auch hatte man seit langem nicht mehr solche Zuseherzahlen wie an diesem Wochenende.

OK, hier wird es langsam absurd.

Aber irgendwo wird die Wahrheit schon liegen. Mal schauen, ab wann dieser Post nicht mehr aktuell ist.

You Will Not Replace Us!

Weil er gerade wieder durch die Medien turnt, dieser Begriff des „Bevölkerungsaustausches“: Woher stammt eigentlich diese Idee?

Nein, nicht aus dem Wörterbuch von Streicher, Stürmer und Co: Die Nazis kannten den Begriff nicht, und obwohl er eindeutig aus dem Wortschatz der rechten politischen Szene stammt, ist er ebenso eindeutig jüngeren Datums. Dies ist, aus aktuellem Anlass, eine Spurensuche nach seiner Herkunft und seiner Bedeutung.

Dazu fahren wir nach Frankreich, in die Gascogne, also das südwestliche Frankreich. Im Dreieck zwischen Montauban, Auch und Agen (für geographisch nicht so sattelfeste: Rund 30 km westlich von Toulouse) liegt  die Ortschaft Plieux. Hier im midi moins le quart, von der Sonne gebleicht und vom Wind ausgedörrt, liegt hoch über den roten Ziegeldächern des Dorfes das befestigte Château de Plieux. In der Nachbartschaft heißen die Ortschaften Condom, Cadillac, Montréal und Roquefort, hier schlug Karl Martell 732 die Mauren vernichtend, hier war im Frühmittelalter eines der Zentren der okzitanischen Hochkultur, bis Ludwig IX, König von Frankreich, die Einheit Frankreichs erzwang und dabei Süd- und Südwestfrankreich blutigst unterwarf. Nicht umsonst nennt ihn die französische Geschichtsschreibung den Heiligen.

Auf dem steinernen Burgfried knattert eine Tricolore im Wind, der von den Pyrenäen herunter weht. Der Turm aus dem 14. Jahrhundert bietet einen perfekten Ort, um die herannahenden Horden der Feinde schon von weit zu erspähen. Drinnen, im zweiten Stock in einer Kombination aus Arbeitszimmer und Rittersaal, sitzt der einundsiebzigjährige Besitzer des Schlosses, Renaud (spricht sich genau so aus wie die Automarke) Camus an einem mit Büchern übersäten Schreibtisch an einem iMac und twittert düstere Warnungen über Europas drohenden demographischen Untergang.

Camus (keine Verwandtschaft) ist der Vordenker der Neuen Rechten in Frankreich und gilt als Ideologe der Identitären, die in Frankreich ihren Ursprung haben. Er ist Autor von mehr als einhundert Büchern, die außerhalb Frankreichs kaum jemand kennt. Bis auf eines: Sein „Le Grand Remplacement“ aus 2012 liegt auch auf Deutsch vor als „Revolte gegen den Großen Austausch“, erschienen im Verlag Antaios, das ist derselbe Verlag, der auch Martin Sellners „Identitär! Geschichte eines Aufbruchs“ verlegt. Amazon bietet beide als „wird gerne gemeinsam gekauft“ an (und liefert übrigens beides nicht nach Österreich, dennoch konnte man den Einband bereits auf den Schreibtischen von Strache und Co entdecken).

Es gibt noch ein Buch von Camus, das übersetzt wurde: „Tricks“ (erschienen auf Deutsch und Englisch), mit einem Vorwort von Roland Barthes, nennt sich im Untertitel „Eine sexuelle Odyssee – von Mann zu Mann“ und beschreibt entsprechende polyglotte Erfahrungen von Mailand bis zur Bronx. Allen Ginsberg nannte Camus „das perfekte Beispiel des urbanen Homosexuellen, zu Hause in mindestens einem halben Dutzend Ländern.“

In Frankreich haben Intellektuelle einen anderen Stellenwert als etwa in Deutschland oder bei uns. Camus ist zwar Vordenker der Rechten, bedient sich aber nicht deren Vokabular. Er unterstützt zwar die französische Rechte mit Marine Le Pen, sagt aber von sich selber explizit, er sei „kein Rechtsextremer“. Er sei einfach einer von vielen Franzosen, die wollten, dass „Frankreich französisch bleibt“. Sein „Moment der Roten Pille“ (ein Ausdruck aus dem Film „The Matrix“, den die weltweite Alt-Right-Bewegung verwendet, um den Zeitpunkt der jeweiligen „politischen Erleuchtung“ zu beschreiben) sei gewesen, als er, Camus, in den neunziger Jahren den Auftrag bekam, (touristische) Bücher über einzelne französische Regionen zu schreiben. Als Kind, sagt er, sei er „xenophil“ gewesen, er habe es geliebt, wenn Fremde in seine Heimat in der Auvergne gekommen wären. Unausgesprochen klingt mit, als Touristen und nicht, um zu bleiben. Als er, im Zuge von Recherchen für die Buchreihe, im  Département de l’Hérault durch mittelalterliche Dörfer fuhr , fand er dort „an Brunnen, die teilweise sechs- bis siebenhundert Jahre alt sind, nur nordafrikanische, verschleierte Frauen“. Dass Frankreich einen großen Anteil an Einwanderern aus seinen ehemaligen Gebieten in Afrika hat, ist nicht neu, aber bislang, so Camus, hätten sie sich auf „Banlieues“, die Vororte der große Städe wie Paris und Lyon, beschränkt, in „Cités“, wie die subventionierten Gemeindebauten in Frankreich genannt werden. Aber nunmehr empfand er den Wandel als ubiquitär und die daraus resultierende demographische Katastrophe als immanent, die das ganze Land bis in seine Wurzeln (la France profonde, das „tiefe“ Frankreich) verändern werde.

„Es ist ganz einfach. Sie haben ein Volk, und im Zeitabstand einer Generation haben sie ein anderes Volk.“ Dabei sei es nicht wichtig, um welches Volk es sich handle, der Ansatz sei universell. „Einzelne“ so schreibt er im Buch, „können sich anpassen, integrieren, assimilieren. Aber Völker, Zivilisationen, Religionen – vor allem wenn diese Religionen Züge einer eigenen Zivilisation, ja einer eigenen Gesellschaft haben – können und wollen auch nicht … sich in andere Völker integrieren, sich an andere Zivilisationen anpassen.“

Keine genetische Definition von Rassen

Camus sagt dabei von sich selber, er habe „keine genetische Definition von Rassen“ als Grundlage seiner Überlegungen und verwende auch niemals den Begriff „überlegen“, er wäre genau so traurig, wenn „die Japanische oder die Afrikanische Kultur“ durch Einwanderung verschwänden. „Menschen sind nicht einfach Dinge. Sie kommen mit ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihrer Sprache, mit ihren Vorlieben und persönlichen Eigenschaften.“ Für Camus ist Einwanderung ein Aspekt einer Globalisierung, die alles verflacht und vereinheitlicht, von der Küche bis zu Landschaften und Baustilen. „Die Essenz des Modernen ist ja, dass alles – wirklich alles – durch etwas anderes ersetzt werden kann, und das ist absolut grauenvoll.“

Mit dieser Ansicht ist Camus nicht alleine. Schon Charles de Gaulle, in Frankreich auch heute noch als de facto unantastbarer Säulenheiliger verehrt, schrieb 1959 an seinen Vertrauten Alain Peyrefitte, in einer Argumentation zum Rückzug Frankreichs aus Französisch Algerien: „Es ist gut, dass es gelbe Franzosen gibt, schwarze und dunkelbraune. Sie zeigen, dass Frankreich offen für alle Rassen ist und ein globales Sendungsbewusstsein hat. Bedingung dabei ist aber, dass sie jeweils eine kleine Minderheit bleiben, sonst wäre Frankreich nicht mehr Frankreich. Wir sind schließlich primär ein europäisches Volk der weißen Rasse, mit einer griechisch-römischen Kultur und christlichen Glaubens.“

De Gaulle führt weiter aus, dass „Muslime mit ihren Turbanen und Dschellabas nicht französisch“ seien und fragt: „Glaubst Du, dass die Französische Nation zehn Millionen Muslime absorbieren kann, die morgen zwanzig und übermorgen vierzig Millionen sein werden?“

Diese Ängste kennt Europa, seitdem es in Nationen denkt und seit die ersten muslimischen Einwanderer aus den französischen Kolonien nach Europa kamen, also in etwa seit dem 19. Jahrhundert. Winston Churchill zum Beispiel (ja, genau der Churchill) warnt schon 1898 (ja, so lange war er schon politisch aktiv) vor „militantem Mohamedanismus“. Und der britische Politiker Enoch Powell beschwört in seiner berühmten „Ströme von Blut“-Rede von 1968, dass Einwanderung „eine totale Veränderung der Gesellschaft“ bewirkt hätte, die „keine Parallele in tausend Jahren Englischer Geschichte“ hätte. (Detail am Rande: Ja, er sagte tatsächlich „englisch“ und nicht „britisch“. Schotten und Iren dürfen sich dazu das ihre denken. Die Waliser und vor allem die Cornischen sind ja schon im englischen Volk aufgegangen. Aber auch das nur so, als aperçu am Rand.)

Das perfide an Camus ist ja, dass er – im Gegensatz zu seinen Apologeten – durchaus gesittet auftritt. Wenn er den drohenden Untergang der französischen Kultur beklagt, klingt das in etwa so, wie wenn ein Franzose darüber klagt, dass McDonald’s & Co die französische Küche zerstörten. Er tritt als feinsinniger, gebildeter Intellektuelle auf, der nichts gemein hat mit dem pöbelndem braunen Mob, der im Namen eben dieser seiner Ideen durch die Strassen von Wien, Stockholm und Rom zieht. Alain Finkielkraut, der jüdische Philosoph und rechte Denker unter den französischen Intellektuellen, nennt Camus einen „Großen Vordenker“, dessen Ideen „überall und jederzeit“ zu hören seien.

Mark Lilla, der kolumbianische Historiker und Experte für europäische Reaktionäre, nennt Camus „das Bindeglied zwischen der respektablen Rechten und dem europäischen Rechtsextremismus“. Er könne seine Rolle als „respektabler“ Reaktionär deshalb spielen, weil seine Ablehnung des Multikulturellen plausibel ästhetisch, gesittet und honorig aufträte, fernab jenes rechten Pöbels, der stiernackig, kopftätowiert und pöbelnd die xenophoben Ideen aus Le Grand Remplacement in die Wirklichkeit umsetzen wolle.

Wobei Camus auch selber Polemik nicht fremd ist. In einer Radiosendung in Frankreich wurde er von Hervé le Bras, dem pensionierten Direktor des „Institut National d’Etudes Démographiques“ (in etwa das Pendant zu unserem Statistischen Zentralamt) scharf angegriffen, seine, Camus’ Annahmen zum Austausch basierten auf „falschen und weitläufigen Verfälschungen“ von Statistiken über den Zuzug von Ausländern nach Frankreich. Camus fuhr nach Hause und twitterte: „Seit wann in der Geschichte benötigt ein Volk ,Wissenschaft‘ um zu entscheiden, ob es von fremden Mächten besetzt“ (invadé et occupé) sei?

Xenophober Nationalismus

Dabei ist in Europa, nach dem Zuzug von mehreren Millionen Flüchtlingen in den letzten Jahren, die Ablehnung von Migration eher ein Sammelbecken verschiedenster rechter Grundhaltungen als eine einheitliche Bewegung. Und dieser xenophobe Nationalismus ist auch nicht auf die rechte Hälfte des politischen Spektrums beschränkt – man spricht ja seit neuerem auch von „linken Identitären“. Einig ist man sich nicht einmal darüber, ob die jüdisch-christliche Tradition das Verbindende sein soll, träumen manche denn auch von einer Wiederkehr älterer, heidnischer religiöser Werte und Vorstellungen. Nicht einmal auf einen einheitlichen Namen kann man sich einigen. Zwar wird das Misstrauen gegenüber Multikulti und ein Interesse in europäischer „Reinheit“ – was immer das auch sein mag – gerne als „identitäre Bewegung“ bezeichnet, aber schon Camus selber lehnt diese Bezeichnung ab. „Glauben Sie, dass sich Ludwig der Vierzehnte, oder La Fontaine oder Racine oder Châteaubriand, als Identitäre sähen? Nein, sie sind einfach Franzosen. So wie ich auch.“

Identitäre sind sohin nicht einfach Neonazi mit einem anderen Namen. Als kurz nach der Inauguration von Donald *spuck* Trump Richard Spencer, einer der Anführer der Alt-Right-Bewegung in den USA, an einer Straßenecke von Washington DC von einem TV-Sender interviewt wurde, schlug ihm ein Protestierer vor laufender Kamera ins Gesicht. Das Video ging viral, aber kaum jemand horchte auf das, was Spencer gerade sagte: „Ich bin kein Neonazi“, sagte er dort, „eigentlich mögen mich die überhaupt nicht.“ Außerdem sei er kein Rassist, er sei eben ein Identitärer. Die Bezeichnung vermeidet eine rassenbezogene Bezeichnung der Weißen als superior, wie das die Nazis mit der Bezeichnung Herrenrasse taten, und nimmt stattdessen von der Linken die Argumente für Diversität und die Ablehnung forcierter Assimilation, um genau das zu fordern, aber eben für die Weiße Rasse.

Dabei ist das Ganze eine eindeutig französische Erfindung, und zwar – als kleine Ironie der Geschichte – aus dem Jahre 1968. Damals traf sich in Nizza eine Reihe von Rechtsextremen und gründeten die „Gruppe zur Erforschung Europäischer Zivilisation“, besser bekannt unter ihrem französischen Akronym „GRECE“. Dieser Think-tank trat bald unter der Bezeichnung „Nouvelle Droite“, (Neue Rechte) auf, ihr wichtigster Kopf war Alain de Benoist. In seinem 1977 erschienenen Buch „Vue de Droite“ (Die Sicht von rechts) erklärte er, die Nouvelle Droite sähe die „langsame Vereinheitlichung der Welt, verkündet und durchgeführt durch den zweitausend Jahre alten Diskurs der egalitären Ideologie, als das Übel der Welt“ an.

Identitäre verwenden Worte wie „Diversität“ und „Ethnopluralismus“, das klingt auf den ersten Blick durchaus Mainstream. In seinem „Manifest für eine Europäische Renaissance“ (1999) argumentiert Benoist denn auch: „Der wahre Reichtum der Welt ist zuvorderst die Diversität ihrer Völker und Kulturen. Die Hinwendung des Westens zum Universalismus ist einer der Hauptgründe für sein Bestreben, den Rest der Welt ebenso zu verändern: In der Geschichte zu seiner Religion (Kreuzzüge), später dann zu seinen politischen Theorien (Kolonialismus) und heute zu seinem ökonomischen und sozialen Modell (Fortschritt) und zu seinen moralischen Prinzipien (Menschenrechte). Eine Armee von Soldaten, Missionaren und Händlern hat diese Verwestlichung der Welt angeführt, getragen durch die Absicht, alle anderen Modelle und Lebensformen zu vernichten.“

Den Neuen Rechten sind globaler Kommunismus und globaler Kapitalismus gleichermaßen suspekt, und jeder Weltbürger ist ein Agent des Imperialismus. Wenn Benoist schreibt, die Menschheit sei „unumkehrbar pluralistisch“, postuliert er damit keinen Schmelztiegel der Kulturen, sondern vielmehr Diversität in Isolation: Alle Franzosen in einem Gebiet, alle Algerier in einem anderen. Im „New Yorker“ schreibt dazu der Autor und Journalist Thomas Chatterton Williams, das sei eine nostalgische und ästhetisierende Sicht auf die Welt, die wenig Rücksicht nähme auf die komplexen politischen und wirtschaftlichen Strömungen, die zur moderne Migration führen. „Identitäre sind Menschen, die sich über Veränderungen beklagen, während sie selber das Glück haben, durch den Zufall ihrer Geburt, Bürger einer reichen liberalen Demokratie zu sein.“

Das führt zu interessanten Kombinationen. „Das Lebensziel aller Menschen in der Dritten Welt kann nicht sein, sich im Westen zu etablieren“ ist so eine Aussage. In einem Interview mit der Tageszeitung „Le Monde“ in den Neunzigern postulierte Benoist, der beste Weg zur Solidarität mit Immigranten sei es, den Handel mit der Dritten Welt so zu steigern, dass diese Länder imstande würden, die Bedürfnisse ihrer Bürger selbständig zu befriedigen, so dass diese nicht mehr danach trachten müssten, durch Auswanderung zu einem besseren Leben zu kommen.

Das ist hierzulande heute direkt Mainstream, nicht wahr? Das kennen wir doch von wo? Hach, wie klein ist doch die Welt. Benoist erklärte vor Journalisten anlässlich der vergangenen Präsidentenwahl in Frankreich, er habe nicht Le Pen gewählt, sondern den Linksextremen Jean-Luc Mélenchon, mit diesem teile er schließlich die Ablehnung des globalen Kapitalismus. So schließt sich der Kreis. Benoist klingt manchmal wie der italienische Marxist Antonio Gramsci, der von der „Hegemonie der Macht über die Bevölkerung“ schreibt, die diese durch die „Kontrolle der Kultur“ ausübe. Und so wie Mélenchon mag auch Benoist keine Disneyfilme, keine Hamburger von MacDonald’s, und beklagt die Vorherrschaft der anglophonen Popkultur.

Bibel der europäischen Rechten

Das „Manifest für eine Europäische Renaissance“ gilt heute als Bibel aller Rechten und Rechtsextremen in Europa, in den USA und selbst in Russland. Dort schreibt und wirkt der – für uns etwas seltsam erscheinende – Philosoph Aleksandr Dugin, der seine Theorie „Eurasianismus“ nennt, eine Art Föderation von weißen Ethnostaaten unter der Führung eines starken Russland. Der russische Proto-Faschismus ist dabei auch nicht neu, der Bogen spannt sich von weißrussischen Emigranten in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhundert über Aleksandr Solschenizin und andere Philosophen des Gulag bis hin zu Wladimir Putin, für den Dugin heute einer der führenden Berater ist. Dugin und der Eurasianismus (manchmal auch Eurosibirismus genannt) sind ein eigenes Kapitel, das wir ein andermal detailliert beleuchten wollen, es gibt da ein kluges Buch darüber von Charles Clover, einem ehemaligen Korrespondenten der Financial Times, nach dessen Lektüre vieles von Putins erratischen politischen Aktionen, von der Krim bis zu Georgien und der Ostukraine, verständlicher werden. Es erklärt die neue russische Paranoia vor dem Westen ebenso wie die neue Liebe der europäischen Rechte für Wladimir Putin.

Egal: Selbst Dugin flog 2012 nach Paris, um Benoist zu treffen, und erklärte dort vor Journalisten, Benoist sei für ihn der „aktuell führende Intellektuelle in Europa“.

In einem Interview mit dem – heftig der weißen Vormachtstellung verschrieben – US-Magazin „American Renaissance“ sagte Benoist, „ich bin mir der Stellung der weißen Rasse ebenso bewusst wie Sie, ich messe ihr nur weniger Bedeutung bei.“ Und fügte hinzu, „Ich kämpfe nicht für die weiße Rasse. Ich kämpfe auch nicht für Frankreich. Ich kämpfe für eine Sicht der Welt … Immigration ist ein klar definiertes Problem, es führt zu einer Reihe von sozialen Pathologien. Aber unsere Identität, die Identität aller Immigranten, alle Identitäten auf dieser Welt haben einen gemeinsamen Feind, und dieser gemeinsame Feind ist das System, das weltweit Identitäten und Unterschiede zerstört. Dieses System ist der Feind, nicht der Andere.“

Benoist ist heute – neben Camus – führender Ideenlieferant der Rechten. Und selbstverständlich gibt es dort nicht „nur“ die Neonazi, genau so wenig wie es links nur „die Linken“ gibt. Links gibt es Stalinisten und Maoisten und Trotzkisten, die einander mindestens ebenso spinnefeind sind wie der liberalen Weltordnung (Fragen Sie doch Peter Pilz, er war schließlich mal Trotzkist, in grauer Vorzeit. Ich übrigens auch.) Und so gibt es auch rechts die verschiedensten Ansätze, und Benoists fast romantische Ansätze eignen sich vortrefflich zur Argumentation verschiedenster, teilweise einander heftig widersprechender Theorien. Der französische Journalist und Filmregisseur Raphaël Glucksmann (nicht verwandt mit André Glucksmann) ist einer der heftigsten Kritiker der französischen Nouvelle Droite. Für ihn hat Benoist „gerade weil man ihn sich so verschieden zu eigen machen kann“ eine unübertroffene Autoritätsstellung unter den Rechten in Europa.

Hoffnung auf Wladimir

Erwähnt werden soll noch ein weiterer Gründer von GRECE, dem rechten Think-tank, nämlich Guillaume Faye, ein Journalist mit einem Doktorat der französischen Eliteuni Science Po (Fakultät für Politikwissenschaften). In seinem 1998 erschienen Essay „Archeofuturismus“ schreibt er, „heute ein Nationalist zu sein bedeutet, dem Konzept seine ursprüngliche etymologische Bedeutung zu geben, nämlich die Mitglieder eines Volkes zu verteidigen.“ Die Schrift argumentiert, die „Völker Europas“ seien bedroht und müssten sich „zu ihrer politischen Selbstverteidigung“ organisieren. Faye meint zu seinen Landsleuten (also zu denen, die dort geboren wurden und weiß sind), ihr Mutterland sei „ein organischer und vitaler Bestandteil jener Gemeinschaft an Völkern, deren natürliches und historisches Territorium – ich würde sogar sagen, ihre Festung – sich von Brest bis zur Beringstrasse erstreckt.“

Das sagt schon Einiges, aber in dem 2016 erschienen „Die Kolonisierung Europas“ setzt Faye große Hoffnung, auch militärisch, auf Waldimir Putin, den er sichtlich als stolzes Symbol weißer heterosexueller Maskulinität ansieht und postuliert, im Hinblick auf Muslime in Europa: „Es wird keine Lösung geben ohne einen Bürgerkrieg.“

Man muss nur ein bisserl kratzen, dann splittert er schon, der Anstrich von Respektabilität der Rechten. Aber Faye gilt schon als Extremist, es hat schon seine Gründe, dass nicht seine Bücher auf den Schreibtischen von FPÖ-Politikern liegen, sondern die von Camus. Macht sich ja auch gleich viel honoriger.

All dies ist sicherlich noch keine erschöpfende Erklärung des Phänomens der Neuen Rechten, die in den letzten Jahren von Frankreich aus in Schweden, in Österreich und auch in den USA breiten Zulauf fanden. Das war auch gar nicht meine Absicht. Ich wollte nur ein wenig Information beisteuern.

Als am 11. August des Vorjahres die „Unite The Right“-Prozession über den Campus der University of Virginia marschierte, mischten sich Anhänger der Weißen Vormachtstheorie (aka klassische Neonazi) gemeinsam mit Vertretern der neuen Rechten und Anhängern der alten konföderierten Ikonographie. Und sangen gemeinsam den Slogan, der das Credo von Le Grand Replacement von Camus bildet: „You will not replace us“ abwechselnd mit „Jews will not replace us“. Wenige dieser jungen Leute, wenn überhaupt, hatten je etwas von Guillaume Faye, Renaud Camus oder Alain de Benoist gehört, und auch nicht, dass diese Rhetorik aus Frankreich importiert worden war. Alles, was sie tun mussten, war die Fackeln anzuzünden und sich zum Marsch zu formieren.

Leipzig. Eine Zwischenbilanz in Bildern.

Und es begab sich, dass die Verbraucherzentrale Sachsen ein Symposium zur digitalen Mobilität abhielt, also fuhr der Igler nach Leipzig. Einfach so, ohne dass es Dezember gewesen wäre.

Wer es genau wissen will, klickt hier.

Hier sind ein paar Bilder davon.

 

Hans Peter, Gusi und das russische Problem.

 Der Österreicher liebster russische Oligarch ist durch die jüngsten US-Sanktionen schwer unter Druck geraten. Hierzulande fällt das offenbar Keinem auf.

 

Moderne Technik hat die Art, in der wir Krieg führen, verändert. Unbemannte Drohnen können gezielt angreifen und töten – sagen wir mal am Hindukusch oder in Syrien – gesteuert von weit entfernten Piloten, die auf der anderen Seite des Globus in klimatisierten Räumen sitzen und am Abend entspannt zu ihrer Familie nach Hause gehen. Angeblich soll das sogar wichtig sein, dass Drohnenpiloten in gewohnter Umgebung arbeiten und abends nach Hause gehen könne, das fördert die Arbeitsmoral und unterstützt die psychische Gesundheit aka so bekommen sie weniger leicht moralische Bedenken.

Auf dem diplomatischen Parkett ist es ähnlich. Dort hat vor allem die USA Methoden entwickelt, die Bösen Buben auf dieser Welt ordentlich in den Schwitzkasten zu nehmen, indem die Möglichkeiten ausgenützt werden, die das weltweite Finanzsystem so bietet. Die Rede ist von Wirtschaftssanktionen, und vor knapp einem Monat wurde das zum ersten Mal im großen Stil nicht gegen Regierungen, sondern gegen einzelne Unternehmen angewandt. Und irgendwie fällt das hierzulande keinem auf, obwohl es direkten Einfluß auf unser Wirtschaftsleben hat.

Der US-Präsident Woodrow Wilson nannte Sanktionen dereinst „eine stille, aber tödliche Methode“. Das war 1919, und seither hat die USA sie immer wieder eingesetzt, mit gemischten Resultaten. Vor allem in den 90er Jahren hatte die Globalisation diese Waffe ziemlich stumpf erscheinen lassen. Unternehmen konnten sehr gut weltweite Geschäfte ohne die USA machen, allfällige Strafen wurden achselzuckend als Geschäftskosten abgerechnet. Man erinnere sich nur an das Oil-for-Food Programm, das von der UNO aufgelegt wurde und über das der damalige irakische Diktator Saddam Hussein fröhlich Geschäfte betrieb, allen US-WIrtschaftssanktionen zum Trotz.

Alles änderte sich mit dem 11. September 2001, allgemein als Nine-Eleven bekannt. Der so genannte „Patriot Act“ erlaubt es seither dem US-Finanzministerium, einzelne Banken als Bedrohung der finanziellen Ordnung einzustufen und sie aus dem Clearing mit US-Dollar auszuschließen, sprich: Zahlungen in US-Dollar anzunehmen und weiter zu geben, denn das Clearing von US-Dollar läuft halt über die USA. Seither können US-Behörden auch bei SWIFT in die Akten schauen. Ursprünglich war das mal ein nur für Banken einsichtiges Nachrichtensystem, in dem alle Zahlungen untereinander von Banken weltweit registriert werden. Nachdem der US-Dollar weltweit noch immer das Zahlungsmittel Nummer eins ist, ist der Ausschluss aus dem Dollar-Clearing für eine Bank, die international tätig ist, praktisch der Todesstoß.

Bis heute wurden nur Nordkorea, der Iran und Syrien aus dem Dollar-Clearing ausgeschlossen (der Iran darf seit seinem Atomdeal übrigens wieder mitspielen), außerdem hatte man das System benutzt, um diverses Kleinzeugs zu fangen, den Waffenhändler Victor Bout etwa, oder BDA, eine Bank aus Macau, die verbotenerweise mit Nordkorea Geschäfte gemacht hatte, und derartiges mehr.

Doch vor einem Monat schloss der 45. Präsident der USA (dessen Namen man nicht aussprechen sollte), zum ersten mal ein einzelnes Unternehmen vom Handel mit US-Dollar aus, nämlich Rusal. Das russische Unternehmen ist einer der weltgrößten Produzenten von Aluminium, mit einem geschätzten Unternehmenswert von 18 Mrd. US-Dollar, und kontrolliert von Oleg Deripaska.

Ja, genau, der Kumpel von Hans Peter Haselsteiner, mit dem zusammen er die Strabag kontrolliert, eines der größten Bauunternehmen Europas mit rund 12,5 Mrd. Euro Jahresumsatz und Sitz in Österreich. (Raiffeisen ist da auch noch dabei, sowie rund 14 Prozent Streubesitz).

In der letzten Finanzkrise musste Deripaska einen Teil seiner Strabag-Aktien verkaufen, hat aber seither seinen Anteil wieder auf knapp über ein Viertel der Aktien aufgestockt.

So wie es aussieht, könnte sich das bald ändern, denn Rusal rauft mit dem Rotz, wie man in Wien so salopp sagt. An sich macht Rusal in den USA nur 14 Prozent seines Gesamtumsatzes, arbeitet so gut wie nicht mit US-Banken zusammen und ist in Hong Kong und Moskau gelistet. Aber dadurch, dass Rusal vom Dollar-Clearing ausgeschlossen wurde, will niemand mehr Geschäfte mit Rusal machen, denn weltweit wird Aluminium (wie die meisten Rohstoffe) in US-Dollar notiert und gehandelt.

Rund um den Globus müssen jetzt Investoren ihre Rusal-Anleihen (die in US-Dollar begeben wurden), abstossen. Der weltgrößte Schiffsfrächter Maersk macht mit Rusal keine Kontrakte mehr. Niemand will Dollar-Schulden von Rusal refinanzieren. Die London Metal Exchange, weltweit der führende Handelsplatz für Metalle, hat die Teilnahme von Rusal drastisch reduziert. Bonitätsagenturen haben Rusal von ihren Bewertungen ausgeschlossen (das tut besonders weh, denn damit ist Rusal de facto nicht kreditwürdig). Europäische Banken haben den Handel mit Rusal-Papieren ausgesetzt. Der Aktienkurs ist seither um die Hälfte (genauer: 56%)  gefallen, die Rusal-Anleihen für 2023 stehen derzeit mit 45 US-Cent auf den US-Dollar im Kurs. Mit einem Wort: The shit has hit the fan.

Weil die US-Regierung explizit die enge Verbindung von Oleg Deripaska mit Wladimir Putin und den anderen Mächtigen im Kreml sowie Deripaskas Kontrolle über den Aluminiumkonzern als Gründe für die Sanktionen gegen Rusal genannt hat, versucht dieser derzeit verzweifelt, seine Anteile (die über diverse Holdings gehalten werden, unter anderem auch über Zypern) zu verkaufen, um das Unternehmen noch zu retten.

So wie es aussieht, könnte unser aller Lieblings-Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer als Aufsichtsratsvorsitzender bei der Strabag SE bald einen neuen Großaktionär begrüssen. Wenn alles gut geht. Wenn nicht, könnte es noch deutlich unfreundlicher werden.

Die Österreicher nehmen davon keinerlei Notiz, weder in den Medien noch in der Öffentlichkeit. Für sie ist Deripaska ein netter, freundlicher Mensch, der seinem Freund Hans Peter wirtschaftlich eng verbunden und ansonst ein hierzulande gern gesehener Gast ist. Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck hält Rusal wahrscheinlich für eine Südkoreanische Zahnpastamarke. Und mit Wirtschaftsthemen ist hierzulande sowieso kein Aufsehen zu machen: Zu fad, zu kompliziert, und überhaupt.

Ja, ich weiß, wir haben gerade andere Sorgen. Aber wenn die Strabag in Schieflage gerät, könnte das sehr schnell zu einem ziemlich großen Problem werden.

Wir leben in aufregenden Zeiten.

Leipzig und so.

Und es begab sich, dass es wieder einmal Weihnachten wurde, also fuhr der Igler nach Leipzig, zum 34C3.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, von wegen all der widersprüchlichen Ideen und Gedanken, die mir seit Leipzig durch den Kopf gehen.

Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Der Umzug von Hamburg nach Leipzig scheint erst mal tadellos funktioniert zu haben. Die Leipziger waren extrem freundlich, das Orgateam hat sich extrem bemüht, eigentlich war alles erste Sahne, und vor allem bunt. Das kann man auch anderweitig nachlesen, also kann ich er mir hier schenken. Ja, es war vieles anders, vieles vertraut, es war weitläufig, wir haben uns alle einen Wolf gelaufen, aber so grosso modo war es ein erfolgreicher Congress.

Die Lichtinstallationen waren ja auch wirklich super. Super bunt, super gemacht. Das hat eine ganz eigene Ästhetik. Sozusagen eine Hackerästhetik. Irgend so ein Pressefuzzi schrieb denn auch, die Veranstaltung sei gegenüber der Buchmesse in der Optik wesentlich bunter gewesen, nur die handelnden Personen – also wir alle – seien irgendwie alle gleich eintönig gekleidet gewesen.

Ja, eh. Any colour, as long as it’s black. So Pressefuzzis können schon ziemlich ahnungslos sein. Egal. Das mit der Hackerästhetik ist eine zweite Überlegung wert. Da ist eine ganz eigene Formensprache entstanden, die darauf schließen lässt, dass das alles mehr als nur ein kurzfristiger Trend ist. Doch davon später.

Zuerst möchte ich vom Unbehagen reden. Wobei: Unbehagen ist nicht ganz das richtige Wort, ich fand bislang nur kein besseres.

Unbehagen? Welches Unbehagen? Dem Club geht es bestens, er wird regelmäßig von Politik und Medien um Meinung und Stellungnahmen gebeten, ist längst im Mainstream angekommen, nach jüngsten Meldungen kamen mehr als 15k Menschen nach Leipzig – was missfällt Ihnen da eigentlich, Herr Igler?

Nix missfällt mir. Ich bin nur verunsichert, wohin sich das alles entwickelt. Eben so ’ne Art Unbehagen.

Ich meine, natürlich kann man die Entwicklung des Clubs nicht losgelöst sehen von den Ereignissen, die derzeit gerade ablaufen. In Österreich haben wir die Nazis in der Regierung, in Deutschland sitzen sie im Parlament, wie lange ist Snowden jetzt her? Hat sich da im Bewusstsein der Menschen in diesem Land $irgendetwas geändert? Na also. Schon deshalb sollte man Unbehagen haben.

Dennoch ist auch der Club für mich an einer Art Scheideweg angekommen. Und die Frage „wohin“ will ja auch mit dem Motto des Congress „tuwat“ beantwortet werden.

So lange wir uns in Hinterzimmern trafen, in angemieteten Kellerlokalen und befreundeten Wohngemeinschaften, konnten wir relativ unbehelligt agieren. Lasst doch die Muggles da draußen machen, was sie so machen wollen, uns kann das doch wirklich herzlich egal sein. Do your thing, und gut is’.

Je nun. Erstens sind wir den Muggles, oder wie immer man „die da draußen“ bezeichnen will, nicht egal, ganz im Gegenteil. Wir sind für sie abwechselnd unheimlich, lächerlich oder faszinierend, aber „egal“ stand da nie auf dem Menü. Zweitens ziehen wir ja nun schon länger durch die Lande und predigen, dass es auch Muggles nicht egal sein kann, was heute so digital abgeht, von meltdown und spectre bis hin zu Überwachungsstaat und Uploadfilter, und werden damit auch wahrgenommen. Und drittens, wenn die taz mal schreibt, dass der Congress „das gesellschaftspolitisch wichtigste Ereignis des Jahres“ sei, kann man daran auch nicht ganz achtlos vorübergehen. Ok, es war nur die taz, und ob das nun nur für Deutschland galt oder für Europa, oder sonst wie oder was, war ja auch beim taz-Artikel nicht so klar. Aber klar ist: Wir werden wahrgenommen, wir werden ernst genommen, auch als potentielle Gegner, und somit ist es an der Zeit, den Mythos „Wir haben mit Politik nix am Hut“ endgültig zu verräumen, weil’s einfach nicht wahr ist: Wir haben die Politik voll an der Backe.

Nur: ob wir das, was im Orwelljahr im Eidelstädter Bürgerhaus mit ein paar Nerds begann, die sich gegenseitig ihren geilen foo vom Vorjahr zeigen und ansonst mal in Ruhe drei (später: vier) Tage verbringen wollten, ob wir dieses Feeling jenseits der 15k Teilnehmer von Leipzig skalieren können, ist noch nicht wirklich raus.

Manchmal krieg’ ich echte déjà-vu. Wenn ich durch den Congress gehe und auf ein handgeschriebenes Plakat stoße: „Endlich normale Menschen!“ Ja, eh’. Dieses Gefühl eines „wir“, was auch immer das sein möge. Das ist mir nicht unvertraut. Man möge mir verzeihen, ich bin schon etwas älter und daher auch schon länger dabei, 1968, weiland im Mai, als sich die Studenten in Paris Straßenschlachten mit den CRS lieferten, da war ich sechzehn und politisch noch recht ahnungslos. Aber wenn da ein paar Studenten versuchten, die Welt zu ändern, wollte ich unbedingt dabei sein, also ließ ich einen Zettel auf dem Tisch liegen und fuhr per Autostop, nach Paris, dorthin wo die Pflastersteine flogen. Dort bin ich zum ersten Mal diesem wir-Gefühl begegnet. Damals waren wir alle überzeugt, wir würden die Welt verändern.

Das Gefühl kam später noch ein paar mal, nicht oft. Im Alter wird man vorsichtiger, und auch bescheidener. Aber für vier Tage, auf dem Congress, läuft das schon ganz gut. Obwohl, das mit dem die Welt verändern …

Weil weiter oben von Hackerästhetik die Schreibe war: Es ist weit mehr als Lichtinstallationen und schwarze T-Shirts. Es fallen Stichworte wie Hackerethik – bei Redaktionsschluss wurde noch diskutiert – und diese besondere Art, respektvoll miteinander umzugehen. Wobei, wir plagen uns ja schon, das in unseren Hackspace-Alltag einzubringen. Aber am Congress scheint das schon mal halbwegs zu funktionieren.

Es gehört aber noch mehr zum Kanon dieser neuen Ästhetik. Memes fallen mir da ein, Redewendungen, Formen der Kommunikation, all das halt, was ein „wir-Gefühl“ vermitteln, verstärken, bestätigen kann. Normale Leute sind Leute so wie wir, in Hoodie und ungeschminkt … oh Mann, Leute, ich komme ab sofort nur mehr im Anzug … Igler, Du weichst ab. Das diskutieren wir ein andermal.

Was unbedingt auch zur Ästhetik gehört und mir so unpackbar gut gefällt: Diese anarchische Lust, sich über sich selbst lustig zu machen. Die Engelgewerkschaft trägt Züge von Dadaismus. Absolut genial. Und, als gelernter Österreicher: Deutsche haben Humor! Hinreißend. Mein Weltbild gerät ins Wanken.

Und dazwischen, immer wieder, die Angst, dieses „unter-uns-Gefühl“ bei einer weiteren Skalierung nach und nach zu verlieren. Der Club wird endlich erwachsen, steht zu seiner gesellschaftlichen Verantwortung, wird eine breite Bewegung, eventuell auch eine politische … pfui Spinne, das ist ja wie in Real Life. Erwachsen werden kann ich selber …

Wie war das? Wir haben uns redlich und ernsthaft und mit allen zur Verfügung stehenden Mittel bemüht, ja nicht so zu werden wie unsere Eltern. Und sind tödlich beleidigt, wenn unsere Kinder nicht so werden wollen wie wir. Ob all die Kids, die in Leipzig in der Ticketschlange standen und sichtlich zum ersten Mal bei einem Congress waren, das auch so sehen wie wir? Das Anarchische skaliert schlecht, wie wir schon von den Piraten wissen, weshalb es mich auch überhaupt nicht wundert, einen Haufen alter Piratenkumpel auf dem Congress wieder getroffen zu haben. Es gab sogar einen Hashtag. Alles was das Hackerherz begehrt.

In diesem Kontext auch relevant: Bei vielen Engeln, vor allem wenn sie mit ihren gelben Warnwesten unterwegs waren, entstand öfters der Eindruck, sie würden als eine Art Personal angesehen. Das fällt zusammen mit der Einschätzung, dass mehr und mehr Besucher auf den Congress als „reine Konsumenten“ kommen. Hony soit qui mal y pense aka ein Schelm, wer schlecht davon denkt. Ist das der Preis, den wir für’s Skalieren zahlen?

Und dennoch, trotz allem: Ich persönlich glaube daran, dass wir das richtig machen, was wir da tun. Wir müssen uns noch mehr in den politischen Diskurs einbringen, vor allem in den gesellschaftspolitischen. Ja, wir müssen weiter wachsen und noch mehr Einfluss bekommen. Das heißt auch, dass der Gegenwind stärker wird. Das Leben ist kein Ponyhof.

Und wir müssen unser Wissen um die Gefährdung dieser unserer Demokratie besser unter die Leute bringen. Es hat keinen Sinn, zu sagen, installiert euch Linux und verwendet Open Source, dann werden die Probleme weniger. Tun sie nicht. Die Menschen haben Windows und Word und WhatsApp installiert und sind heilfroh, wenn sie das halbwegs bedienen können. Und ein politisches Bewusstsein darüber, wie das alles genau abläuft, kriege ich auch gebacken, wenn ich auf Edge und Outlook unterwegs bin. Wir müssen, wie das so schön neudeutsch heißt, die Menschen dort abholen, wo sie sind. Und dort, wo wir sie vermuten oder erhoffen, dort sind sie nicht. Ja, ich weiß: Die Diskussionen dauerten bei Redaktionsschluss noch an.

Ansonst? Es war wie immer: Überwältigend, ein mehrfacher stack overflow an Erkenntnissen, gelernten Dingen, coolen Erfahrungen, emotionellen Augenblicken, Lachen, wir-Gefühl … endlich normale Leute, halt. Der Umzug nach Leipzig hat geklappt, wir können alle zufrieden sein. Ich zähle die Tage bis zum nächsten Congress.

Und verweise auf das Wochenende im März, an dem wir angeblich auch über die Fragen, die ich mir hier gestellt habe, diskutieren werden. Mal sehen.