Der Machthaber im Moskauer Kreml hat sich bei der Invasion der Ukraine offenbar gründlich verkalkuliert. Ob das jetzt besser oder schlechter für Europa ist, wird sich noch herausstellen. Ein Faktencheck.
Jetzt ist es Samstag nachmittag am 26. Februar 2022, zwei Tage nachdem der russische Präsident Wladimir Putin den Befehl zum Einmarsch auf ukrainisches Staatsgebiet gegeben hat (an meinem 70. Geburtstag. Kein schönes Geschenk.) Und so wie es aussieht, läuft es nicht so rund in der Ukraine, zumindest nach den Vorstellungen des russischen Machthabers.
Ja, ich weiß, die sozialen Medien sind jetzt voll mit Russlandspezialisten und Putinerklärern, nachdem die Fachleute für Immunologie und Seuchenbekämpfung aus der Mode gekommen sind. Ich will es dennoch versuchen, schließlich habe ich auf diesem Blog hier und hier schon vor acht Jahren über den Ukrainekonflikt geschrieben.
Putins Weltbild wurde vor 1992 geprägt, da war die Sowjetunion zwar schon teilweise disfunktional, aber sie bestand, und die Ukraine war ein fixer Bestandteil von ihr. Zu der Zeit war ich zweimal in Kiev, da sprach man dort mehrheitlich Russisch, und im Donbas sowieso, Ukranisch, also das altösterreichische Ruthenisch, sprachen allenfalls die Bauern in den Karpaten oberhalb Lembergs, draussen im Westen. Und von einem ukrainischen Nationalismus oder einem Nationalbewußtsein oder irgendetwas dieser Art war weit und breit nichts zu sehen oder hören. So disfunktional war die UdSSR schon geworden, dass wir uns relativ frei bewegen konnten, es wäre uns aufgefallen.
Dass Putin die Ukraine zurück haben will, war eigentlich immer klar. In seinem letzten TV-Auftritt hat er das auch argumentiert. Was Stalin nach dem Weltkrieg so westlich angeflanscht hatte, die Ostkarpaten und Lemberg und so, das gehört sowieso nicht dazu. Also stellt er sich eine geteilte Ukraine vor, mit Lemberg im Westen, als Satellitenstaat, und der Rest gehört zu Russland. Darauf plant er seit Jahren hin, das kann er jetzt endlich durchführen, darum macht er es. Jetzt.
Beharrlich hat Russland seine Armee wieder aufgerüstet und hat auch Erfolge gehabt: In Georgien, in Syrien, in Tschetschenien. Auch die Besetzung der Krim 2014 ging reibungslos und ohne einen Schuss, wahrscheinlich dachte Putin, das könnte vielleicht jetzt auch so gehen.
Offenbar hat er dabei übersehen, dass seit 1992 sehr viel Wasser auch den Dnjepr hintergeflossen ist, die Ukrainer von heute sind nicht mehr die von 1992. Damals waren es Sowjetbürger, man war vereint in seinem Elend und in seiner Sehnsucht nach mehr Berioska und westlichem Luxus, und ob man Russe oder Ukrainer war, war völlig schnurz. Und wer regierte, ebenfalls, am Ende war es immer die Partei.
So dämlich das aus heutiger Sicht auch klingen mag, damals war man im Osten ja überzeugt, für Freiheit und Sozialismus zu sein, man war auf dem richtigen Weg, holprig zwar, aber die Ideologie vereinte die Sowjetbürger, sie gab ihnen etwas, an das sie glauben konnten. Putin und seine Clique haben keine Ideologie, es geht ausschließlich um Macht, Korruption und Ausbeutung. Und dafür werden sich die Ukrainer nicht begeistern lassen, schließlich haben sie seit Maidan 2014 tatsächlich so etwas wie eine Demokratie, mit einer lebhaften Presse und einem offenen gesellschaftlichen Diskurs.
Geplant war offenbar, in einer Kommandoaktion Kiev zu besetzen, die demokratisch gewählte Regierung gefangen zu nehmen oder zu töten und eine Marionettenregierung einzusetzen, egal, irgendwer findet sich da immer. Möglicherweise haben die Russen erwartet, sie würden einfach die Stadt übernehmen, so wie die Taliban Kabul, weil bürgerliches Bewusstsein und Willen zum Widerstand kennt Putin offenbar nicht.
Der Plan ging bisher nicht auf, weder ist Kiev gefallen, noch ist die Regierung geflohen, im Gegenteil, Präsident Selenski posiert wehrhaft im TV und ruft zum Widerstand auf und wird über Nacht zum Nationalhelden, flankiert vom Boxweltmeister und nunmehrigem Kiever Bürgermeister Witali Klitschko. Und die ukrainische Armee von 2022 ist nicht mehr die von 2014, die ein paar Aufständische, mit Hilfe kleiner grüner russischer Männchen, vor sich her treiben konnten. Sicher, am Ende sind die Russen noch immer haushoch überlegen, auf dem Papier zumindest, aber in Zeiten der assymetrischen Kriegsführung zählt das alles nicht. Und auf einen langwierigen Häuserkampf ist die russische Armee nicht trainiert. Dazu besteht sie zu großen Teilen aus konskribierten Rekruten, unterbezahlt, unmotiviert und undiszipliniert. Die ersten Plünderungen durch russische Soldaten soll es schon gegeben haben.
Bedeutet: Wenn das nicht schnell vorbei ist und die Russen die Oberhand gewinnen, wird’s komplex. Dann leiden die Russen, die ja wirklich nicht die Weltmeister in Logistik und Organisation sind, nicht nur an schweren Nachschubproblemen, sondern der Kreml muss den eigenen Leuten auch die Toten erklären, die dann unvermeidlich sind, wenn die Ukrainer sich weiterhin so wehren, wie sie es bisher tun. Weil innenpolitisch wird das ja als Polizeiaktion verkauft, man ,,entnazifiziert“ jetzt endlich mal den Nachbarn, und das Brudervolk wird jubeln. Dass das Brudervolk zurückschießt, stand nicht im Drehbuch.
Die ersten Interviews mit gefangenen russischen Soldaten zeigen ahnungslose Rekruten, die nicht wissen, auf wen sie schießen sollen und vor allem warum. Vielleicht ist es ja auch eine Propagandafinte, damit sie der ukrainische Volkszorn nicht zerreisst; dass die Ukainer ihre Gefangenen ordentlich behandeln, kommt im russischen Erwartungskataster auch nicht vor. Oder so. Rührend auch Szenen, wo alte Frauen auf russisch die Soldaten beschimpfen. Oder die Panzerbrigade, der der Sprit ausgegangen ist, von Zivilisten auf dem Handy gefilmt ,,Wir können euch nach Russland zurückschleppen, wenn ihr wollt“, wer weiß, was davon Agitprop ist und was echt.
Echt ist aber offenbar, dass der rasche ,,Enthauptungsschlag“ aka die Einnahme der Hauptstadt Kiew nicht so funktioniert hat wie geplant respektive bis jetzt überhaupt nicht funktioniert hat. Die Soldaten der ukrainischen Armee sind hoch motiviert und kämpfen um ihre Heimat, das zeigt Wirkung. Jetzt, am Sonntag vormittag, melden die Agenturen: Kiew noch immer nicht gefallen, Charkiv im Norden wieder freigekämpft.
Das muss sich eins auf der Zunge zergehen lassen: Die Russen hatten die Stadt schon eingenommen. Und die Ukrainer haben sie wieder hinausgeworfen. Chapeau.
Putin ist auch bekanntermassen nicht so ein IT-Freak aka er ist der Sache gegenüber ziemlich mißtrauisch. Offenbar zu Recht, weil er hat offensichtlich das Internet nicht verstanden. Seine Kontrolle über die Medien umfasst nur so Dinge wie Fernsehen oder Printprodukt. Ja, die russische bot-Armee müllt uns imWesten die Foren zu, aber daheim kann die russische Zensur nicht verhindern, dass junge Russinnen und Russen ausländische Nachrichtenkanäle via Netz konsumieren. Konsequenterweise haben die Ukrainer eine Seite aufgemacht, auf der sie Namen und Bilder gefangener sowie gefallener russischer Soldaten veröffentlichen. Als Service an die Verwandten, sozusagen. Netter Nebeneffekt: Es demoralisiert die Truppe.
Scherz beseite: Klar ist das ein Propagandacoup. Aber es passt auch schön, sagen zu können, seht her, hier sterben eure Söhne, und ER sagt es euch nicht. Mal schauen, was das in den kommenden Tagen bringt. Angeblich hat die russische Armee fahrbare Krematorien mit dabei, damit nicht so viele Body Bags in die Heimat zurückgebracht werden müssen.
Die russischen Zensurbehörden haben am Samstag russischen Medien die Benutzung der Worte Нападение (Offensive), Вторжение (Invasion) und Война (Krieg) explizit verboten. Dennoch setzt sich auch bei den Mütterchen in Russland langsam die Ansicht durch, dass dies keine kurzfristige Befreiungsaktion ist, sondern ein richtiger Krieg, mit toten Söhnen und Brüdern und Bildern von bombardierten Kindergärten und so.
Hut ab übrigens vor dem Mut, offen innerhalb Russlands gegen den Krieg aufzutreten. Meine uneingeschränkte Hochachtung.
Mal schaun, wie das weitergeht. Wenn Putins befreundete Oligarchen nicht mehr zu ihren Superyachten fliegen können und ihre Frauen keine Gucci-Klunker mehr bekommen. Und, wie gesagt, wenn der russischen Öffentlichkeit bewußt wird, dass das keine Polizeiaktion ist, sondern ein blutiger Invasionskrieg. Der, im übrigen, nicht so einfach zu gewinnen sein wird, wenn überhaupt. Warten wir doch, bis am Montag die Moskauer Börse ins Bodenlose fällt. Und dass Putin draufkommt, dass seine 850 Mrd. Dollar Devisenreserven praktisch wertlos sind, weil wenn er nicht mehr in SWIFT drin ist, wo – und vor allem technisch wie – will er sie denn ausgeben? Er kann Gold verkaufen (lassen), geht aber auch nicht so auf jetzt und hier. Alles sehr spannend.
Selbst das von mir so geliebte ,,Law Of Unintended Consequences“, das Gesetz über nicht beabsichtige Folgen der jeweiligen Aktionen, schlägt hemmungslos zu: Genau das, was Putin nicht will, zementiert er mit seinem Krieg dauerhaft ein: Ein ukrainisches Nationalbewusstsein, das alle, auch die Russischstämmigen, plötzlich zu einer neuen Nation zusammenschweisst. Ups, war nicht beabsichtigt …
Was Väterchen Wladimir allerdings macht, wenn er seinen Arsch wirklich eingezwickt bekommt, und ob er dann nachgibt oder ins atomare Körbchen greifen wird …
Wir leben in aufregenden Zeiten.
Slawa Ukraini.