Der allrussische Traum oder Was treibt Putin wirklich an?

Nachfolgend der Text eines Vortrags von mir am 16.4.22 auf der DiVOC22 „Bridging Bubbles“ des CCC Hamburg.

Es ist schon ungefähr dreißig Jahre her, da begab ich mich für eine Reportage in die russische Stadt Nischnij Nowgorod, auf der Suche nach der „Russischen Seele“, der duscha russkaja.

Mitgebracht habe ich von dort zwei Dinge: Eine Reihe von wunderschönen, aber unglaublich deprimierenden Schwarzweiß-Fotos zum postsowjetischem Verfall einer schönen, alten russischen Stadt. Und ein Interview mit einem jüdischen Philosophieprofessor, das in dem Satz gipfelte: „Wir haben euren Faschismus besiegt. Um den Preis, dass wir unseren am Leben gelassen haben.“

Einigen wir uns für diesen Vortrag darauf, Faschismus zu definieren als Ultranationalismus, gepaart mit Führerprinzip, Ablehnung demokratischer Prinzipien sowie dem Primat der Gruppe über das Individuum. Ich habe bewusst nicht „antikommunistisch“ hinzugefügt, weil das nur auf die faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts zuträfe. Und selbst da sind die Grenzen verschwommen: Marx war sicher kein Faschist, Lenin höchstwahrscheinlich nicht, Stalin hinwieder ganz sicher.

Jetzt machen wir erst einmal einen kurzen historischen Exkurs.

Nämlich weil das mit die Geschichte – also erstens ist es wie überall kompliziert, und zweitens haben wir das in der Schule ja nicht gelernt und daher hat kaum wer Ahnung davon. Wäre aber praktisch, denn es erklärt sehr viel von dem, was da gerade in der Ukraine abgeht.

Die Wikinger – ja, tatsächlich, die – sind als ebenso unternehmungslustig wie reisefreudig bekannt, und das nicht nur nach Westen, wo Eric der Rote bis nach Neufundland kam, sondern auch nach Osten. Dort fuhren sie auf Flüssen wie Dnjestr und Dnjepr mit ihren Drachenschiffen von Skandinavien bis an das Schwarze Meer und begründeten dabei eine Reihe von Städten als Handelsniederlassungen, respektive trieben mit den Städten, die sie schon vorfanden, Handel. Man nennt diese Wikinger auch Waräger, angeblich sind sie für die unpackbar blauen Augen sowie das leuchtende Strohblond der Ukrainerinnen verantwortlich, oder so ähnlich. So weit die Fakten.

Der Mythos erzählt von einem Stamm der Wikinger, der sich Rus nannte. Von denen gibt’s aber keine geschichtlichen Bezeugungen, also gibt es sie erst mal offiziell nicht. Was die Rus oder Waräger oder wen auch immer, nicht davon abhält, ab dem neunten Jahrhundert als Kiewer Rus aufzutreten, als Großreich der Slawen so in etwa dort, wo die heutige Ukraine ist.

Der Mythos erzählt von zehn weisen Männern, die in einem goldenen Boot den Dnjepr herunterkommen und in der Stadt Kiew an Land gehen, um dort auf den sieben Hügeln der Stadt das neue (orthodoxe a.k.a rechtgläubige) Rom zu gründen (bzw. wieder zu errichten).

Die Geschichte wieder weiß, dass der warägische Großfürst Wladimir I. Swjatoslawitsch 899 in Kiew zum byzantinisch-orthodoxen Christentum konvertierte, weshalb ihn die Russen den Heiligen nennen und in Kiew die Wiege ihrer Nation sehen.

Das ist ein wichtiger Punkt: Tatsächlich sind die Geschichte von Kiew und Moskau eng miteinander verbunden.

1240 fiel Kiew, die Goldene Pforte, im Zuge der mongolischen Invasion, das ist auch das Ende der Kiewer Rus. Erst dreihundert Jahre später eroberte Iwan IV, Großfürst von Moskau, die tartarischen Khanate Khasan und Astrachan und legte damit den Grundstein zu einem modernen russischen Großreich. Die Geschichte dankte es ihm, indem sie ihn den „Schrecklichen“ nannte, wobei die Übersetzung fehlerhaft ist, denn die Russen nennen ihn groznyj, was der „Drohende“, der „Strenge“, „der zu Respektierende“ bedeutet, wahrscheinlich ist das „schrecklich“ ein früher PR-Spin (katholischer) europäischer Fürstenhöfe, gegenüber dem neuen Mitspieler, der noch dazu die „falsche“ Religion hatte. However.

Jedenfalls versteht die russische Geschichtsschreibung Moskau seither als legitime Nachfolgerin der Kiever Rus, konsequenterweise nannten sich die Zaren seit Iwan „Herrscher aller Russen“ und meinten damit auch Kiew und Minsk, also die Ukraine und Weißrussland.

Und Kiew selber? Versank nach dem Tartarensturm in die Mittelmässigkeit und wurde erst eine Provinzstadt der litauischen Großfürsten und später eine ebensolche im Königreich Polen.

Die Polen waren katholisch, die lokalen Ruthenen orthodox, das klingt nach Ärger, und so war es auch. Wobei die anti-polnischen Bewegungen nichts von Unabhängigkeit redeten, sondern von der Vereinigung mit dem russischen Mutterland. Das gelang auch unter dem Hetmann der Kosaken Bogdan Chmelnitzkij, dieser besiegte in mehreren Schlachten diverse polnische Heere, meuchelte bei der Gelegenheit auch ein Fünftel der (damaligen) ukrainischen Juden, um schließlich 1654 den Zusammenschluss des Kosakenstaates mit dem russischen Zarenreich zu feiern.

Seither ist Kiew „wieder“ russisch, denn Chmelnitzkij verstand sich als Russe. Von „ukrainischem“ Nationalismus war da weit und breit noch nichts zu sehen und zu hören.

Martti J. Kari ist Finne und pensionierter Oberst des Geheimdienstes der finnischen Streitkräfte und lehrt an der Universität von Helsinki: „Ich habe mich mein ganzes Leben lang mit Russland und der russischen Sicht der Welt auseinandergesetzt“. Für ihn sind vor allem die dreihundert Jahre tartarischer Herrschaft ein Schlüssel. Ich kann leider kein Wort Finnisch, aber die Untertitel übersetzen es mit „a completly lawless period“,  eine völlig gesetzlose Zeit. Das bedeutet gleichzeitig: Der Stärkere gewinnt. Und dieses Prinzip habe sich, so Oberst Kari, im Denken und Handeln Russlands bis heute festgeschrieben.

Kurzer Exkurs zur Religion: Als sich das Christentum 1054 in eine West- und eine Ostkirche spaltete, ging es, neben Fragen des Ritus und der päpstlichen Machtbefugnisse, auch um etwas Grundsätzliches, nämlich ob man sich G*tt mit menschlichen Methoden (vor allem denen der Vernunft) nähern dürfe, oder ob G*tt ein Mysterium sei, dem eins sich widerspruchslos unterwerfen soll/muss. Die westliche Welt entwickelte konsequenterweise die Jesuiten und Jürgen Habermas, die Ostkirchen verharren bis heute in einem tiefen Mystizismus. Demzufolge ist rationell denken im Zweifelsfall sündhaft. Das zieht sich bis heute durch alle Gesellschaftsschichten, läppische siebzig Jahre sowjetischer Antiklerikalismus haben da wenig bewirkt. Und was den aufklärerischen Anspruch im Sozialismus betrifft: Der ging, samt Sozialismus, schon bei Stalin flöten.

Die Zaren verstanden sich als g*ttgesandt und daher als unfehlbar. In dem Augenblick, in dem der Zar gekrönt wird, bekommt er von G*tt die Gnade und die Erleuchtung, das Richtige zu tun. Und wenn er einen Fehler macht, dann ist es niemals des Zaren Schuld, sondern immer die seiner Untergebenen, der „Bojaren“, der Hofadel, der das Gros der Verwaltung stellte. Und G*tt ist selbstverständlich Russe, denn die orthodoxe Kirche ist eine Staatskirche und untrennbar mit der Macht verbunden. Dabei ist sie zutiefst konservativ, machtdevot und staatsgläubig – Autorität wird von G*tt verliehen, sie in Frage zu stellen ist eine Sünde.

Man kann es auch in historischen Dimensionen erklären: Die Aufklärung, von Locke, Hobbes, Hume, von Erasmus und Descartes und Montesquieu und wie sie alle heißen, all die Denker, aus deren Gedanken die Grundlagen unserer modernen Staatsideologie hervorgegangen sind, kommen in der russischen Geschichte nicht vor, weder im Original noch in der Übersetzung noch in einem lokalen Äquivalent oder sonst etwas. Bis tief ins 19. Jahrhundert hinein sind die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung Leibeigene, also de facto Sklaven, mit einer dünnen Oberschicht der Adeligen. Kurzum: Die europäische Aufklärung hat hier nie statt gefunden.

Und die Industrialisierung in Russland erfolgte in Wirklichkeit erst durch die Bolschewiki, wie im berühmten Satz von Lenin auf dem VIII. Gesamtrussischen Sowjetkongress am 22. Dezember 1920 festgehalten: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“.

Die Sowjetmacht und nach ihr auch Wladimir Putin haben, neben dem Anspruch als „allrussische“ Herrschaftsmacht, auch die imperialistischen Ansprüche des Zarentums übernommen, ebenso wie auch den Anspruch der Unfehlbarkeit („Die Partei hat immer Recht.“) Der Panslawismus, eine Idee vor allem aus dem 19. Jahrhundert aus der Hexenküche des Nationalismus, sieht die Slawen – also alle, Bulgaren, Serben, Slowaken – als ein einziges Volk, vereint im rechtmäßigen Glauben, und die Russen sind dazu ausersehen, sie zu schützen und zu verteidigen.

Und dabei ist, so der finnische Oberst Kari, am Ende jedes Mittel recht, selbstverständlich auch die rohe Gewalt, der Vertragsbruch, was immer der Glorie Russlands und dem Erhalt und der Fortführung derselben dient. So predigt das dann auch der Pope in der Kirche.

1917 ist große Zäsur in der russischen Geschichte: erst der Sturm auf dem Winterpalast und die bürgerliche Revolution, dann der bolschewistische Putsch und acht Jahre Bürgerkrieg. Um 1920 waren mehr als zwei Millionen Russen ins benachbarte Ausland geflohen, die meisten von ihnen Adelige oder Intellektuelle. Es ist die bis dahin größte Flüchtlingsbewegung Europas.

Einer von ihnen, Nikolaj Sergejewitsch Trubezkoj, war schon vor seiner Flucht angesehener Linguist in Moskau. Er schrieb 1920 im Exil: „Es gibt nur einen wahren Gegensatz: die Romanogermanen und die übrigen Völker der Welt, Europa und die Menschheit.“

Moment, ich erkläre das gleich.

1921 erschien dazu der erklärende Sammelband „Exodus nach Osten“ in einem russischen Exilverlag im bulgarischen Sofia. Der Band enthielt Aufsätze von Trubezkoj sowie des Theologen Georgi Florowski, des Geographen, Ökonomen und Philosophen Pjotr Sawizki sowie des Musikologen Pjotr Suwtschinski. Die Autoren entwickelten darin ein Konzept, dem sie die Bezeichnung Jewrasijstwo gaben, das lässt sich in etwa mit „Eurasismus“ oder „Eurasianimus“ übersetzen. Diese geopolitische Ideologie behauptet, dass ein von Russland dominierter, zwischen Europa und Asien befindlicher „Kontinent Eurasien“ in einem fundamentalen Gegensatz zur „romano-germanisch“ geprägten westlichen Welt stehe.

Dieser „Kontinent Eurasien“ deckt sich in ungefähr mit dem Territorium des zaristischen Großreiches. Westliche Kultur wird nicht per se abgelehnt, jedoch als für Russland ungeeignet erachtet, da ihr das spirituelle Element fehlt. Der Bolschewismus wird als „abscheulich“ zurückgewiesen; die Exzesse im russischen Bürgerkrieg hätten seine „geistige Armut“ (duchownoje uboschestwo) gezeigt, aber auch die „rettende Kraft der Religion“ hervortreten lassen.

Ziel der Eurasier ist die Vereinigung der großen christlichen Kirchen unter Führung der russisch-orthodoxen Kirche; der Katholizismus habe die Urgedanken des Christentums verfälscht. Auch die Juden seien einzubeziehen, die „orthodoxe jüdische Kirche“ bliebe aber in ihrem Kult eigenständig. Ein Zar solle „in christlicher Liebe“ diesen zu schaffenden „Staat der Weisheit“ regieren, in dem alle Nationalitäten gleichberechtigt seien. Auch die Ukraine habe ihren Platz in diesem eurasischen Reich zu finden; der Anspruch ukrainischer Nationalisten, zu Europa zu gehören, sei historisch unbegründet. Wichtigster Nachbar Eurasiens sei China. Die geeignete Wirtschaftsform sei eine weiterentwickelte Planwirtschaft.

Extempore: Ich habe ja schon vorhin auf den tiefen Mystizismus in der russischen Kultur hingewiesen, das möchte ich hier noch einmal explizit hervorheben. Mystik ist ein untrennbarer Bestandteil des russischen Wesens, deshalb konnten sich auch die feudalen Strukturen so gut erhalten, schließlich waren sie ja „g*ttgegeben“ und G*tt zweifelt man nicht an. Vielleicht sollte eins noch erwähnen, dass es schon in der griechischen Philosophie die Diskussion um den „gerechten Tyrannenmord“ gibt, auch im Römischen Recht ist dieses „Recht auf Widerstand“ festgeschrieben. In der Aufklärung wird dieses Recht vor allem beim englischen Philosoph John Locke festgeschrieben, („Das Volk soll Richter sein“), auf den sich die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung explizit beruft.

All das ist dem russischen Selbstverständnis fremd, um nicht zu sagen wesensfremd. Vielleicht mögen die Russen ja deshalb Kant, weil dieser das Recht auf Widerstand ablehnt. Egal, heute steht es in der deutschen Verfassung, für einen gläubigen orthodoxen Russen ist das hart an der G*tteslästerung.

Die meisten Eurasisten kamen im Gulag um, nur Trubezkoj starb 1938 in Wien.

Ab den fünfziger Jahren entwickelte der Geograph und Turkologe Lew Gumiljow die eurasistische Ideologie im Untergrund weiter. Durch die Aufnahme biologistischer Elemente entfernte sich Gumiljow aber von den klassischen Eurasiern. Seine Idee von einer Wiederherstellung eines Bündnisses zwischen Slawen und Steppenvölkern fand erst nach Perestroika und der Auflösung der UdSSR Verbreitung.

Warum erzähle ich das alles hier? Ganz einfach: Weil die Eurasisten heute keine fringe-Bewegung mehr sind, sondern im Zentrum der Macht sitzen, und zwar mit dieser Person: Alexander Dugin.

Dugin ist Mitglied des innersten Zirkels um Wladimir Putin und sein spiritueller Beichtvater. Seit den frühen Neunzigern vertritt er eine Art Neu-Eurasianismus. Im Gegensatz zur zentralen These des klassischen Eurasismus, dass es einen dritten Kontinent „Eurasien“ zwischen Europa und Asien gebe, versteht Dugin „Eurasien“ als Europa und Asien. In Anlehnung an Thiriarts Idee von einer Pax Eurasiatica plädiert Dugin für ein eurasisches Imperium von Dublin bis Wladiwostok unter der Führung Russlands, weil, so Dugin, „die wahren, geopolitisch gerechtfertigten Grenzen Russlands bei Cadiz und Dublin liegen und Europa dazu bestimmt ist (…) der Sowjetunion beizutreten“. Alle Eurasier, auch Dugin, haben die bipolare Weltsicht gemeinsam, dass „Eurasien“ einem Hauptfeind gegenüberstünde. Der Unterschied ist, dass klassische Eurasier das „romanogermanische Europa“ als Gegner ansahen, wohingegen Neo-Eurasier sich einen Kampf vorstellen zwischen hierarchisch organisierten „eurasischen“ Landmächten unter der Führung Russlands und liberalen „atlantischen“ Seemächten unter der Führung der USA. Europa wird laut Dugin von den USA okkupiert und Russland müsse die Rolle des Befreiers annehmen. Der Erfolg „Eurasiens“ hänge von der Wiedergeburt des imperienbildenden russischen Volkes ab. In Dugins apokalyptischer Weltsicht steuere diese jahrhundertealte Gegnerschaft zwischen Land- und Seemächten auf einen „Endkampf“ zu. (Ragnarök?)

Dugin beruft sich dabei nicht nur auf die traditionelle eurasistische Bewegung, sondern auch auf Vertreter der westeuropäischen Neuen Rechten wie Jean-François Thiriart und Alain de Benoist, die Traditionalisten René Guénon und Julius Evola, Vertreter der Konservativen Revolution wie Carl Schmitt und Geopolitiker wie Karl Haushofer.

Ich lasse das jetzt einmal alles so stehen.

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