Bob Dylan spielt in Varaždin.
Am Freitag, den 13.
Wo, zum Teufel, ist eigentlich Varaždin?
„Komm mit nach Varaždin, so lange noch die Rosen blüh’n. Dort wollen wir glücklich sein. Du bist die schönste Fee von Debrecen bis Plattensee.“ So zumindest lässt Emerich Kàlmàn in seiner Operette „Gräfin Màriza“ singen. Irgendwie assoziiere ich Varaždin denn auch mit Grottenbahnmusik und verarmten ungarischen Adeligen, die sich als was anderes ausgeben, oder so. Deshalb war ich ja auch bis jetzt nie dort. Soll aber ein hübsches barockes Städtchen sein. Wahrscheinlich irgendwo in Ungarn, so wie sich das anhört.
Aber Bob Dylan? Ausgerechnet?
Varaždin liegt in Kroatien. Es war sogar einmal kroatische Hauptstadt. Und wahrscheinlich hat sich Kàlmàn das alles nur wegen des Reimes ausgedacht. Egal. Heute Abend spielt hier jedenfalls nicht Kàlmàn, sondern Dylan.
Am Vortag hat Bob Dylan in Leoben in der Steiermark gespielt. Und heute ist Freitag, der 13. Juni 2008, und in Varaždiner „Gradski Stadion“ spielen ab fünf Uhr irgendwelche kroatischen Liedermacher, ab sieben die Manic Street Preachers, und ab neun Uhr steht Mr. Bob Dylan auf dem Programm auf der elektronischen Leuchttafel.
Und deshalb sind wir heute 500 Kilometer weit gefahren aus Split bis Varaždin, um Herrn Robert Zimmermann zu hören, nach fast fünfzig Jahren auf der Bühne, mein Freund Dario und ich. Dario liebt Pete Seeger, Joan Baez, die Beatles, Johnny Cash und Peter, Paul & Mary, und fragt mich, wer die Manic Street Preachers sind. Ich definiere sie als einen Verschnitt von U2, etwas jünger und aus Wales, und auch deutlich linker als Bono, und hoffe, dass mich dabei keiner hört und auch kein Blitz erschlägt. Aber Dario versteht, was ich meine, denn U2 kennt er. Und was links ist weiß er auch. Und die Manic Street Preachers wird er nicht mögen, egal wie engagiert sie singen, das weiß wiederum ich.
Schließlich singen sie aber dann gar nicht so engagiert. Sie singen einfach laut, und nach 23 Jahren Bühnenerfahrung relativ professionell, ihr Programm herunter, dazwischen übt der Lichtregisseur noch einige Einstellungen für die Digiwall rechts und links von der Bühne, es ist sieben Uhr abends und taghell und ich habe Zeit, mir das Publikum in Ruhe anzusehen. Dessen Altersdurchschnitt ist deutlich höher als das der gesamten Securitymannschaft. Früher war das anders, aber früher gab’s auch keine Open Air Konzerte in Varaždin, schon gar nicht von Bob Dylan.
Früher gab es auf Konzerten auch deutlich weniger Bullen als hier, aber jetzt ist heute und hier und so sind die Zeiten eben. Früher waren wir zu diesem Zeitpunkt auch schon längst eingekifft. Heute sind wir nüchtern, nicht nur wegen der vielen Bullen, sondern auch, weil uns der Arzt das Rauchen verboten hat. Irgendwie komm’ ich mir vor wie auf einer Woodstock 40 Years Revival Party. Oder vielleicht war es Newport? Egal. Vorne müht sich James Dean Bradfield von den Preachers redlich, so etwas wie Stimmung aufkommen zu lassen. Dann sind eineinhalb Stunden um und der Set ist ausgespielt.
Nicht nur Dario steht hier nicht auf die Manic Street Preachers, heute abend. „You were fucking great“, schreit Bradfield jetzt zum Abschied ins Mikro, und „see you again next year“. Offennsichtlich glaubt das keiner hier, weder auf der Bühne oder im Publikum. Die Mehrheit ist heute nur aus einem Grund hier, und sorry, Bradfield, du bist es nicht. Auch gut. Dafür ist das Bier mit umgerechnet zwei Euro auf ein Krügerl billig und schmeckt auch noch anständig, und außerdem wird es langsam Abend an diesem verregneten Freitag, und es sieht ganz so aus, als würde es dann doch nicht mehr regnen. Im Westen glüht der Himmel rosapurpurlila, davor fährt ein Vorortezug.
Das Publikum hat, ganz entgegen den üblichen kroatischen Gepflogenheiten, keine Jogginghosen und Adidasjackerln an, die Männer tragen keine Goldkettchen und die Frauen keine Stiefel zu goldglänzenden Leggings, was der üblichen Kleiderordnung im Nightlife von Varaždin entspräche. Dafür tragen alle Männer Jeans, gerne auch Bart und einen ledernen Outbackhut à la Crocodile Dundee, oder war es doch Indiana Jones? Dazwischen gibt es auch die ungeschminkten Damen in den weiten Kleidern und den flachen Schuhen, die mittlerweile grauen Haare zum Zopf geflochten oder aufgesteckt, und auch den einen oder andern älteren Herren samt Ehefrau, die beide den Eindruck machen, als wären sie bereits in Pension. Es wird viel geraucht. Ich meine Zigaretten. Vorne am Einlass hängt ein Schild „No Guns. No Drogs. No Umbrellas.“ Das letztere verstehe ich nicht ganz, aber sie werden gnadenlos abgenommen und häufen sich neben dem Einlass. Ist ja wie auf einem Flughafen hier. Aber es ist eben nicht mehr so wie früher.
Heute abend trifft sich das alte linke Jugoslawien hier, das Milo Dor las und selbst „Blowing in the Wind“ sang, mal auf Englisch, mal auf Serbokroatisch. Auch würde ich den Anteil der HDZ-Wähler heute abend auf eher unterdurchschnittlich schätzen. Doch das ist nur die Hälfte des Publikums. Die andere besteht aus jenen, die erst lange nach Newport und Woodstock auf die Welt gekommen sind, den Kids, für die Bob Dylan offenbar etwas ganz anderes bedeutet. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich mir genau vorstellen kann, was.
Das Stadion fasst ungefähr fünftausend Personen, und langsam füllt es sich bis auf den letzten Platz, während es mittlerweile auch ganz dunkel geworden ist. Die PA spielt Led Leppelin, und trotz der Menge tanzen sich wie üblich ein paar Grobmotoriker ein, zu Stairway to Heaven und Jimmy Page, der ihr Großvater sein könnte. Es ist mittlerweile halb zehn, und Herr Zimmermann könnte jetzt auftreten. Bei den Portapotties drängt sich die Menge, schließlich war der Bierabsatz seit fünf Uhr Nachmittag beachtlich, und das will jetzt entsorgt werden, so kommt auch der Hauptsponsor des Festivals, eine kroatische Biermarke, auf seine Rechnung. In Zeiten wie diesen geht das sogar geruchsfrei, das feine Pissoiraroma früher Festivals fehlt, heutzutage.
Ich weiß, ich wiederhole mich.
Und dann – kein Trommelwirbel, aber stürmischer Jubel, und er spielt. Ein Spot, kein Lichtwechsel. Dylan sitzt an Keyboards, schwarzer Hut, mein Gott ist der alt geworden, er eröffnet mit „Everybody Must Get Stoned“, herunter gehackt wie seinerzeit „Maggies Farm“, in einem ganz schnellen Bluegrass-Schlag, mit zwei klirrenden E-Gitarren und einem Schlagzeug und einer Geige, von der anfangs nicht viel zu hören ist. Keine Vidowall, keine Lichteffekte. Ich hätte ein Opernglas mitnehmen sollen.
Ich sitze auf der VIP-Bühne, die seitlich links angeordnet ist, offenbar reicht der Abstrahlkegel für die hohen Töne der PA nicht bis hierher, jedenfalls ist der Sound erbärmlich. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Soundcheck zehn Meter vor der Bühne steht. Und Bob Dylan klingt wie Tom Waits, der Jonny Cash imitiert, wenn er Bob Dylan singt. Mann, womit gurgelt der vor seinen Auftritten?
Es klingt ernüchternd, um es höflich auszudrücken.
Ich schiebe die Schuld auf die PA und gehe hinunter in die Public Aerea, erst einmal ganz hinten, denn die Menge vorne steht dicht gedrängt, das ist mir zu heftig. (Sprich: Für so was bin ich zu alt.) Der Sound wird etwas besser, aber Dylan klingt noch immer, als hätte er mit Terpentin gegurgelt, dazu spielt er seinen Set stoisch ab. So wie der erste Song klang, so spielt er auch alle anderen. You Gotta Serve Someone. Just Like A Woman. A Hard Rain Is Gonna Fall. Alles die alten Hadern. Es ist erstaunlich, wie man diese Lieder so spielen kann, dass sie alle gleich klingen, aber Dylan kann das mit links, und wenn man sich einmal eingehört hat, versteht man sogar die Texte wieder, obwohl er selbst den Sprachrythmus der Songs völlig verdreht.
Beim Publikum ist allgemeine Rudelverzückung angesagt. Von hinten sehe ich mindestens eintausend Handybildschirme, weil alle das Ereignis mitfilmen wollen, die Kameras blitzen nur so links, rechts, in der Mitte. Früher waren es Bicfeuerzeuge, und Wunderkerzen, und ganz früher haben die Leute getanzt und waren irgendwie weggedröhnt. Aber das hier ist ein anständiges Festival und 2008, also gibt es Handybildschirme. Irgendwie war das Licht von den Bicfeuerzeugen wärmer, nicht so metallisch blau.
Mittendrin sitzt der alte Mann, stoisch, zwischen zwei Gas-Heizungsschwammerln, wie sie der Wirt im Frühjahr auf die Terrasse stellt, weil es regnet zwar nicht, aber es ist kühl geworden, und spielt seine Keyboards und seine Mundharmonika. Don’t Think Twice. Im Hintergrund fährt noch ein Zug durch, in dieselbe Richtung. Ob die in dem Zug wohl wissen, wer da spielt, und was? Jetzt spielt er Rainy Day Woman, in einer unfassbaren Fassung, immer mit der Mundharmonika, die er in seinem Rahmen um den Hals trägt wie seinerzeit, 1963, auf dem Newport Folk Festival. Mein Gott, ist das lange her. Und wozu bin ich jetzt 500 km gefahren, und was verdammt noch mal mache ich alter Trottel hier um halb elf Uhr abends? Ach ja, das ist ein Bob Dylan Konzert. Sorry I asked.
Ich weiss noch immer nicht, was ich hier eigentlich soll.
Nach einer Stunde hat sich Dylan eingesungen, jetzt klingt er wie er selber, nach einer schweren Bronchitis. Nasal, dafür etwas aufgerauht. If Dogs Run Free. Aber nichts von der Desire, nichts von späterem Material. Obwohl, nach zwei Stunden hab’ ich den Überblick verloren, denn Dylan näselt alle Songs gleich runter. Immerhin, über zwei Stunden dauert der Set, dann spielt er noch eine Zugabe, stellt seine Musiker vor, thank you. Aus.
Das Publikum strömt heraus, alle die älteren Linken und die Träumer und die Exhippies und die, die noch immer die gestreiften Hosen anhaben und die, die jetzt in Designerjeans kommen und die, die in verknitterten Cordhosen den Intellektuellen geben und der alte pensionierte Opa, der hat echt bis jetzt ausgehalten. Ich bin beeindruckt. Später sehe ich dann auch noch meinen Anwalt, aber ich beschließe, nicht zu winken. Ich habe jetzt keinen Bock. Wonderful music, sagt Dario, Dylan is beautiful.
Auf der Fahrt nach Hause hören wir ausschließlich Dylan. Und 500 km sind ziemlich lang, da kommt was zusammen. Und mir wird plötzlich bewusst: Herr Zimmermann hat einen großen Bogen geschlagen und ist zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Er singt Blues, in der Tradition von Blind Lemon Jefferson und Emmit Cole, aber auch von Woody Guthrie und George Landers. Nichts anderes hat er gemacht, 50 Jahre lang. Dazwischen immer wieder Ausflüge in andere Genre, Folk, Latin, Protest, wasweißich. Am Ende näselt er halt immer wieder seinen Blues herunter, wie irgendeiner von diesen Steel Guitar-Spielern in irgendeiner Spelunke in Georgia oder Louisiana. Und dazu ist er ein magischer Poet, ein Genie der Sprache, der wie kein anderer seine Zeit gespiegelt hat und dabei sich selber treu geblieben ist. Dylan, das Chamäleon. Dylan, der sich stets entzogen Habende, der Rockpoet, der keiner sein wollte. Immerhin einer, der es überlebt hat. Und immer wieder: Was für eine Magie der Sprache, was für eine Gewalt, was für eine Beherrschung der Nuancen. Ein Genie. Dylan Thomas war keine schlechte Anspielung.
Mein iPod spielt jetzt „The Times They Are A’Changing“ in unserem Autoradio. A hymn for the movement, sagt Dario. Which movement, frage ich. Was ist geblieben? Sind wir alle schon so alt geworden? Was ist mit unseren Träumen, Wünschen, Plänen, Sehnsüchten, unserer Wut und unserer Naivität und unseren felsenfesten Überzeugungen? Heast Oida, sagt mein kleiner Mann im Ohr, hab’ dich nicht so. Wegen dem bisserl älter werden.
Ein Bob Dylan Konzert an einem Freitag, den 13., in Varaždin in der nördlichen Zagorska von Kroatien. Immerhin. Es hätte schlimmer kommen können.