Weil er gerade wieder durch die Medien turnt, dieser Begriff des „Bevölkerungsaustausches“: Woher stammt eigentlich diese Idee?
Nein, nicht aus dem Wörterbuch von Streicher, Stürmer und Co: Die Nazis kannten den Begriff nicht, und obwohl er eindeutig aus dem Wortschatz der rechten politischen Szene stammt, ist er ebenso eindeutig jüngeren Datums. Dies ist, aus aktuellem Anlass, eine Spurensuche nach seiner Herkunft und seiner Bedeutung.
Dazu fahren wir nach Frankreich, in die Gascogne, also das südwestliche Frankreich. Im Dreieck zwischen Montauban, Auch und Agen (für geographisch nicht so sattelfeste: Rund 30 km westlich von Toulouse) liegt die Ortschaft Plieux. Hier im midi moins le quart, von der Sonne gebleicht und vom Wind ausgedörrt, liegt hoch über den roten Ziegeldächern des Dorfes das befestigte Château de Plieux. In der Nachbartschaft heißen die Ortschaften Condom, Cadillac, Montréal und Roquefort, hier schlug Karl Martell 732 die Mauren vernichtend, hier war im Frühmittelalter eines der Zentren der okzitanischen Hochkultur, bis Ludwig IX, König von Frankreich, die Einheit Frankreichs erzwang und dabei Süd- und Südwestfrankreich blutigst unterwarf. Nicht umsonst nennt ihn die französische Geschichtsschreibung den Heiligen.
Auf dem steinernen Burgfried knattert eine Tricolore im Wind, der von den Pyrenäen herunter weht. Der Turm aus dem 14. Jahrhundert bietet einen perfekten Ort, um die herannahenden Horden der Feinde schon von weit zu erspähen. Drinnen, im zweiten Stock in einer Kombination aus Arbeitszimmer und Rittersaal, sitzt der einundsiebzigjährige Besitzer des Schlosses, Renaud (spricht sich genau so aus wie die Automarke) Camus an einem mit Büchern übersäten Schreibtisch an einem iMac und twittert düstere Warnungen über Europas drohenden demographischen Untergang.
Camus (keine Verwandtschaft) ist der Vordenker der Neuen Rechten in Frankreich und gilt als Ideologe der Identitären, die in Frankreich ihren Ursprung haben. Er ist Autor von mehr als einhundert Büchern, die außerhalb Frankreichs kaum jemand kennt. Bis auf eines: Sein „Le Grand Remplacement“ aus 2012 liegt auch auf Deutsch vor als „Revolte gegen den Großen Austausch“, erschienen im Verlag Antaios, das ist derselbe Verlag, der auch Martin Sellners „Identitär! Geschichte eines Aufbruchs“ verlegt. Amazon bietet beide als „wird gerne gemeinsam gekauft“ an (und liefert übrigens beides nicht nach Österreich, dennoch konnte man den Einband bereits auf den Schreibtischen von Strache und Co entdecken).
Es gibt noch ein Buch von Camus, das übersetzt wurde: „Tricks“ (erschienen auf Deutsch und Englisch), mit einem Vorwort von Roland Barthes, nennt sich im Untertitel „Eine sexuelle Odyssee – von Mann zu Mann“ und beschreibt entsprechende polyglotte Erfahrungen von Mailand bis zur Bronx. Allen Ginsberg nannte Camus „das perfekte Beispiel des urbanen Homosexuellen, zu Hause in mindestens einem halben Dutzend Ländern.“
In Frankreich haben Intellektuelle einen anderen Stellenwert als etwa in Deutschland oder bei uns. Camus ist zwar Vordenker der Rechten, bedient sich aber nicht deren Vokabular. Er unterstützt zwar die französische Rechte mit Marine Le Pen, sagt aber von sich selber explizit, er sei „kein Rechtsextremer“. Er sei einfach einer von vielen Franzosen, die wollten, dass „Frankreich französisch bleibt“. Sein „Moment der Roten Pille“ (ein Ausdruck aus dem Film „The Matrix“, den die weltweite Alt-Right-Bewegung verwendet, um den Zeitpunkt der jeweiligen „politischen Erleuchtung“ zu beschreiben) sei gewesen, als er, Camus, in den neunziger Jahren den Auftrag bekam, (touristische) Bücher über einzelne französische Regionen zu schreiben. Als Kind, sagt er, sei er „xenophil“ gewesen, er habe es geliebt, wenn Fremde in seine Heimat in der Auvergne gekommen wären. Unausgesprochen klingt mit, als Touristen und nicht, um zu bleiben. Als er, im Zuge von Recherchen für die Buchreihe, im Département de l’Hérault durch mittelalterliche Dörfer fuhr , fand er dort „an Brunnen, die teilweise sechs- bis siebenhundert Jahre alt sind, nur nordafrikanische, verschleierte Frauen“. Dass Frankreich einen großen Anteil an Einwanderern aus seinen ehemaligen Gebieten in Afrika hat, ist nicht neu, aber bislang, so Camus, hätten sie sich auf „Banlieues“, die Vororte der große Städe wie Paris und Lyon, beschränkt, in „Cités“, wie die subventionierten Gemeindebauten in Frankreich genannt werden. Aber nunmehr empfand er den Wandel als ubiquitär und die daraus resultierende demographische Katastrophe als immanent, die das ganze Land bis in seine Wurzeln (la France profonde, das „tiefe“ Frankreich) verändern werde.
„Es ist ganz einfach. Sie haben ein Volk, und im Zeitabstand einer Generation haben sie ein anderes Volk.“ Dabei sei es nicht wichtig, um welches Volk es sich handle, der Ansatz sei universell. „Einzelne“ so schreibt er im Buch, „können sich anpassen, integrieren, assimilieren. Aber Völker, Zivilisationen, Religionen – vor allem wenn diese Religionen Züge einer eigenen Zivilisation, ja einer eigenen Gesellschaft haben – können und wollen auch nicht … sich in andere Völker integrieren, sich an andere Zivilisationen anpassen.“
Keine genetische Definition von Rassen
Camus sagt dabei von sich selber, er habe „keine genetische Definition von Rassen“ als Grundlage seiner Überlegungen und verwende auch niemals den Begriff „überlegen“, er wäre genau so traurig, wenn „die Japanische oder die Afrikanische Kultur“ durch Einwanderung verschwänden. „Menschen sind nicht einfach Dinge. Sie kommen mit ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihrer Sprache, mit ihren Vorlieben und persönlichen Eigenschaften.“ Für Camus ist Einwanderung ein Aspekt einer Globalisierung, die alles verflacht und vereinheitlicht, von der Küche bis zu Landschaften und Baustilen. „Die Essenz des Modernen ist ja, dass alles – wirklich alles – durch etwas anderes ersetzt werden kann, und das ist absolut grauenvoll.“
Mit dieser Ansicht ist Camus nicht alleine. Schon Charles de Gaulle, in Frankreich auch heute noch als de facto unantastbarer Säulenheiliger verehrt, schrieb 1959 an seinen Vertrauten Alain Peyrefitte, in einer Argumentation zum Rückzug Frankreichs aus Französisch Algerien: „Es ist gut, dass es gelbe Franzosen gibt, schwarze und dunkelbraune. Sie zeigen, dass Frankreich offen für alle Rassen ist und ein globales Sendungsbewusstsein hat. Bedingung dabei ist aber, dass sie jeweils eine kleine Minderheit bleiben, sonst wäre Frankreich nicht mehr Frankreich. Wir sind schließlich primär ein europäisches Volk der weißen Rasse, mit einer griechisch-römischen Kultur und christlichen Glaubens.“
De Gaulle führt weiter aus, dass „Muslime mit ihren Turbanen und Dschellabas nicht französisch“ seien und fragt: „Glaubst Du, dass die Französische Nation zehn Millionen Muslime absorbieren kann, die morgen zwanzig und übermorgen vierzig Millionen sein werden?“
Diese Ängste kennt Europa, seitdem es in Nationen denkt und seit die ersten muslimischen Einwanderer aus den französischen Kolonien nach Europa kamen, also in etwa seit dem 19. Jahrhundert. Winston Churchill zum Beispiel (ja, genau der Churchill) warnt schon 1898 (ja, so lange war er schon politisch aktiv) vor „militantem Mohamedanismus“. Und der britische Politiker Enoch Powell beschwört in seiner berühmten „Ströme von Blut“-Rede von 1968, dass Einwanderung „eine totale Veränderung der Gesellschaft“ bewirkt hätte, die „keine Parallele in tausend Jahren Englischer Geschichte“ hätte. (Detail am Rande: Ja, er sagte tatsächlich „englisch“ und nicht „britisch“. Schotten und Iren dürfen sich dazu das ihre denken. Die Waliser und vor allem die Cornischen sind ja schon im englischen Volk aufgegangen. Aber auch das nur so, als aperçu am Rand.)
Das perfide an Camus ist ja, dass er – im Gegensatz zu seinen Apologeten – durchaus gesittet auftritt. Wenn er den drohenden Untergang der französischen Kultur beklagt, klingt das in etwa so, wie wenn ein Franzose darüber klagt, dass McDonald’s & Co die französische Küche zerstörten. Er tritt als feinsinniger, gebildeter Intellektuelle auf, der nichts gemein hat mit dem pöbelndem braunen Mob, der im Namen eben dieser seiner Ideen durch die Strassen von Wien, Stockholm und Rom zieht. Alain Finkielkraut, der jüdische Philosoph und rechte Denker unter den französischen Intellektuellen, nennt Camus einen „Großen Vordenker“, dessen Ideen „überall und jederzeit“ zu hören seien.
Mark Lilla, der kolumbianische Historiker und Experte für europäische Reaktionäre, nennt Camus „das Bindeglied zwischen der respektablen Rechten und dem europäischen Rechtsextremismus“. Er könne seine Rolle als „respektabler“ Reaktionär deshalb spielen, weil seine Ablehnung des Multikulturellen plausibel ästhetisch, gesittet und honorig aufträte, fernab jenes rechten Pöbels, der stiernackig, kopftätowiert und pöbelnd die xenophoben Ideen aus Le Grand Remplacement in die Wirklichkeit umsetzen wolle.
Wobei Camus auch selber Polemik nicht fremd ist. In einer Radiosendung in Frankreich wurde er von Hervé le Bras, dem pensionierten Direktor des „Institut National d’Etudes Démographiques“ (in etwa das Pendant zu unserem Statistischen Zentralamt) scharf angegriffen, seine, Camus’ Annahmen zum Austausch basierten auf „falschen und weitläufigen Verfälschungen“ von Statistiken über den Zuzug von Ausländern nach Frankreich. Camus fuhr nach Hause und twitterte: „Seit wann in der Geschichte benötigt ein Volk ,Wissenschaft‘ um zu entscheiden, ob es von fremden Mächten besetzt“ (invadé et occupé) sei?
Xenophober Nationalismus
Dabei ist in Europa, nach dem Zuzug von mehreren Millionen Flüchtlingen in den letzten Jahren, die Ablehnung von Migration eher ein Sammelbecken verschiedenster rechter Grundhaltungen als eine einheitliche Bewegung. Und dieser xenophobe Nationalismus ist auch nicht auf die rechte Hälfte des politischen Spektrums beschränkt – man spricht ja seit neuerem auch von „linken Identitären“. Einig ist man sich nicht einmal darüber, ob die jüdisch-christliche Tradition das Verbindende sein soll, träumen manche denn auch von einer Wiederkehr älterer, heidnischer religiöser Werte und Vorstellungen. Nicht einmal auf einen einheitlichen Namen kann man sich einigen. Zwar wird das Misstrauen gegenüber Multikulti und ein Interesse in europäischer „Reinheit“ – was immer das auch sein mag – gerne als „identitäre Bewegung“ bezeichnet, aber schon Camus selber lehnt diese Bezeichnung ab. „Glauben Sie, dass sich Ludwig der Vierzehnte, oder La Fontaine oder Racine oder Châteaubriand, als Identitäre sähen? Nein, sie sind einfach Franzosen. So wie ich auch.“
Identitäre sind sohin nicht einfach Neonazi mit einem anderen Namen. Als kurz nach der Inauguration von Donald *spuck* Trump Richard Spencer, einer der Anführer der Alt-Right-Bewegung in den USA, an einer Straßenecke von Washington DC von einem TV-Sender interviewt wurde, schlug ihm ein Protestierer vor laufender Kamera ins Gesicht. Das Video ging viral, aber kaum jemand horchte auf das, was Spencer gerade sagte: „Ich bin kein Neonazi“, sagte er dort, „eigentlich mögen mich die überhaupt nicht.“ Außerdem sei er kein Rassist, er sei eben ein Identitärer. Die Bezeichnung vermeidet eine rassenbezogene Bezeichnung der Weißen als superior, wie das die Nazis mit der Bezeichnung Herrenrasse taten, und nimmt stattdessen von der Linken die Argumente für Diversität und die Ablehnung forcierter Assimilation, um genau das zu fordern, aber eben für die Weiße Rasse.
Dabei ist das Ganze eine eindeutig französische Erfindung, und zwar – als kleine Ironie der Geschichte – aus dem Jahre 1968. Damals traf sich in Nizza eine Reihe von Rechtsextremen und gründeten die „Gruppe zur Erforschung Europäischer Zivilisation“, besser bekannt unter ihrem französischen Akronym „GRECE“. Dieser Think-tank trat bald unter der Bezeichnung „Nouvelle Droite“, (Neue Rechte) auf, ihr wichtigster Kopf war Alain de Benoist. In seinem 1977 erschienenen Buch „Vue de Droite“ (Die Sicht von rechts) erklärte er, die Nouvelle Droite sähe die „langsame Vereinheitlichung der Welt, verkündet und durchgeführt durch den zweitausend Jahre alten Diskurs der egalitären Ideologie, als das Übel der Welt“ an.
Identitäre verwenden Worte wie „Diversität“ und „Ethnopluralismus“, das klingt auf den ersten Blick durchaus Mainstream. In seinem „Manifest für eine Europäische Renaissance“ (1999) argumentiert Benoist denn auch: „Der wahre Reichtum der Welt ist zuvorderst die Diversität ihrer Völker und Kulturen. Die Hinwendung des Westens zum Universalismus ist einer der Hauptgründe für sein Bestreben, den Rest der Welt ebenso zu verändern: In der Geschichte zu seiner Religion (Kreuzzüge), später dann zu seinen politischen Theorien (Kolonialismus) und heute zu seinem ökonomischen und sozialen Modell (Fortschritt) und zu seinen moralischen Prinzipien (Menschenrechte). Eine Armee von Soldaten, Missionaren und Händlern hat diese Verwestlichung der Welt angeführt, getragen durch die Absicht, alle anderen Modelle und Lebensformen zu vernichten.“
Den Neuen Rechten sind globaler Kommunismus und globaler Kapitalismus gleichermaßen suspekt, und jeder Weltbürger ist ein Agent des Imperialismus. Wenn Benoist schreibt, die Menschheit sei „unumkehrbar pluralistisch“, postuliert er damit keinen Schmelztiegel der Kulturen, sondern vielmehr Diversität in Isolation: Alle Franzosen in einem Gebiet, alle Algerier in einem anderen. Im „New Yorker“ schreibt dazu der Autor und Journalist Thomas Chatterton Williams, das sei eine nostalgische und ästhetisierende Sicht auf die Welt, die wenig Rücksicht nähme auf die komplexen politischen und wirtschaftlichen Strömungen, die zur moderne Migration führen. „Identitäre sind Menschen, die sich über Veränderungen beklagen, während sie selber das Glück haben, durch den Zufall ihrer Geburt, Bürger einer reichen liberalen Demokratie zu sein.“
Das führt zu interessanten Kombinationen. „Das Lebensziel aller Menschen in der Dritten Welt kann nicht sein, sich im Westen zu etablieren“ ist so eine Aussage. In einem Interview mit der Tageszeitung „Le Monde“ in den Neunzigern postulierte Benoist, der beste Weg zur Solidarität mit Immigranten sei es, den Handel mit der Dritten Welt so zu steigern, dass diese Länder imstande würden, die Bedürfnisse ihrer Bürger selbständig zu befriedigen, so dass diese nicht mehr danach trachten müssten, durch Auswanderung zu einem besseren Leben zu kommen.
Das ist hierzulande heute direkt Mainstream, nicht wahr? Das kennen wir doch von wo? Hach, wie klein ist doch die Welt. Benoist erklärte vor Journalisten anlässlich der vergangenen Präsidentenwahl in Frankreich, er habe nicht Le Pen gewählt, sondern den Linksextremen Jean-Luc Mélenchon, mit diesem teile er schließlich die Ablehnung des globalen Kapitalismus. So schließt sich der Kreis. Benoist klingt manchmal wie der italienische Marxist Antonio Gramsci, der von der „Hegemonie der Macht über die Bevölkerung“ schreibt, die diese durch die „Kontrolle der Kultur“ ausübe. Und so wie Mélenchon mag auch Benoist keine Disneyfilme, keine Hamburger von MacDonald’s, und beklagt die Vorherrschaft der anglophonen Popkultur.
Bibel der europäischen Rechten
Das „Manifest für eine Europäische Renaissance“ gilt heute als Bibel aller Rechten und Rechtsextremen in Europa, in den USA und selbst in Russland. Dort schreibt und wirkt der – für uns etwas seltsam erscheinende – Philosoph Aleksandr Dugin, der seine Theorie „Eurasianismus“ nennt, eine Art Föderation von weißen Ethnostaaten unter der Führung eines starken Russland. Der russische Proto-Faschismus ist dabei auch nicht neu, der Bogen spannt sich von weißrussischen Emigranten in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhundert über Aleksandr Solschenizin und andere Philosophen des Gulag bis hin zu Wladimir Putin, für den Dugin heute einer der führenden Berater ist. Dugin und der Eurasianismus (manchmal auch Eurosibirismus genannt) sind ein eigenes Kapitel, das wir ein andermal detailliert beleuchten wollen, es gibt da ein kluges Buch darüber von Charles Clover, einem ehemaligen Korrespondenten der Financial Times, nach dessen Lektüre vieles von Putins erratischen politischen Aktionen, von der Krim bis zu Georgien und der Ostukraine, verständlicher werden. Es erklärt die neue russische Paranoia vor dem Westen ebenso wie die neue Liebe der europäischen Rechte für Wladimir Putin.
Egal: Selbst Dugin flog 2012 nach Paris, um Benoist zu treffen, und erklärte dort vor Journalisten, Benoist sei für ihn der „aktuell führende Intellektuelle in Europa“.
In einem Interview mit dem – heftig der weißen Vormachtstellung verschrieben – US-Magazin „American Renaissance“ sagte Benoist, „ich bin mir der Stellung der weißen Rasse ebenso bewusst wie Sie, ich messe ihr nur weniger Bedeutung bei.“ Und fügte hinzu, „Ich kämpfe nicht für die weiße Rasse. Ich kämpfe auch nicht für Frankreich. Ich kämpfe für eine Sicht der Welt … Immigration ist ein klar definiertes Problem, es führt zu einer Reihe von sozialen Pathologien. Aber unsere Identität, die Identität aller Immigranten, alle Identitäten auf dieser Welt haben einen gemeinsamen Feind, und dieser gemeinsame Feind ist das System, das weltweit Identitäten und Unterschiede zerstört. Dieses System ist der Feind, nicht der Andere.“
Benoist ist heute – neben Camus – führender Ideenlieferant der Rechten. Und selbstverständlich gibt es dort nicht „nur“ die Neonazi, genau so wenig wie es links nur „die Linken“ gibt. Links gibt es Stalinisten und Maoisten und Trotzkisten, die einander mindestens ebenso spinnefeind sind wie der liberalen Weltordnung (Fragen Sie doch Peter Pilz, er war schließlich mal Trotzkist, in grauer Vorzeit. Ich übrigens auch.) Und so gibt es auch rechts die verschiedensten Ansätze, und Benoists fast romantische Ansätze eignen sich vortrefflich zur Argumentation verschiedenster, teilweise einander heftig widersprechender Theorien. Der französische Journalist und Filmregisseur Raphaël Glucksmann (nicht verwandt mit André Glucksmann) ist einer der heftigsten Kritiker der französischen Nouvelle Droite. Für ihn hat Benoist „gerade weil man ihn sich so verschieden zu eigen machen kann“ eine unübertroffene Autoritätsstellung unter den Rechten in Europa.
Hoffnung auf Wladimir
Erwähnt werden soll noch ein weiterer Gründer von GRECE, dem rechten Think-tank, nämlich Guillaume Faye, ein Journalist mit einem Doktorat der französischen Eliteuni Science Po (Fakultät für Politikwissenschaften). In seinem 1998 erschienen Essay „Archeofuturismus“ schreibt er, „heute ein Nationalist zu sein bedeutet, dem Konzept seine ursprüngliche etymologische Bedeutung zu geben, nämlich die Mitglieder eines Volkes zu verteidigen.“ Die Schrift argumentiert, die „Völker Europas“ seien bedroht und müssten sich „zu ihrer politischen Selbstverteidigung“ organisieren. Faye meint zu seinen Landsleuten (also zu denen, die dort geboren wurden und weiß sind), ihr Mutterland sei „ein organischer und vitaler Bestandteil jener Gemeinschaft an Völkern, deren natürliches und historisches Territorium – ich würde sogar sagen, ihre Festung – sich von Brest bis zur Beringstrasse erstreckt.“
Das sagt schon Einiges, aber in dem 2016 erschienen „Die Kolonisierung Europas“ setzt Faye große Hoffnung, auch militärisch, auf Waldimir Putin, den er sichtlich als stolzes Symbol weißer heterosexueller Maskulinität ansieht und postuliert, im Hinblick auf Muslime in Europa: „Es wird keine Lösung geben ohne einen Bürgerkrieg.“
Man muss nur ein bisserl kratzen, dann splittert er schon, der Anstrich von Respektabilität der Rechten. Aber Faye gilt schon als Extremist, es hat schon seine Gründe, dass nicht seine Bücher auf den Schreibtischen von FPÖ-Politikern liegen, sondern die von Camus. Macht sich ja auch gleich viel honoriger.
All dies ist sicherlich noch keine erschöpfende Erklärung des Phänomens der Neuen Rechten, die in den letzten Jahren von Frankreich aus in Schweden, in Österreich und auch in den USA breiten Zulauf fanden. Das war auch gar nicht meine Absicht. Ich wollte nur ein wenig Information beisteuern.
Als am 11. August des Vorjahres die „Unite The Right“-Prozession über den Campus der University of Virginia marschierte, mischten sich Anhänger der Weißen Vormachtstheorie (aka klassische Neonazi) gemeinsam mit Vertretern der neuen Rechten und Anhängern der alten konföderierten Ikonographie. Und sangen gemeinsam den Slogan, der das Credo von Le Grand Replacement von Camus bildet: „You will not replace us“ abwechselnd mit „Jews will not replace us“. Wenige dieser jungen Leute, wenn überhaupt, hatten je etwas von Guillaume Faye, Renaud Camus oder Alain de Benoist gehört, und auch nicht, dass diese Rhetorik aus Frankreich importiert worden war. Alles, was sie tun mussten, war die Fackeln anzuzünden und sich zum Marsch zu formieren.