Putins kognitive Dissonanzen oder Die Angst vor dem Dominoeffekt

Was machen Tscherkessen im Kosovo und was haben die Finnen damit zu tun?

Es ist schon eine Weile her, da lebte ich in Moskau, noch zur Zeit der UdSSR. In der spätsowjetischen Mangelwirtschaft war es gar nicht so einfach, an ordentliches Essen zu kommen, weder für Geld noch für Gute Worte … das fing schon beim Brot an: Es gab eine Sorte, eine Art Kasten-Graubrot, und aus. Gerüchteweise gab es bei der Brotverkaufsstelle an der Krasna Presnenskaja an Sonntagen vormittags auch Weißbrot. Dazu hätte man aber sehr früh aufstehen müssen … am Sonntag … ich hab’ das nicht einmal probiert.

Weshalb man als Ausländer die Einladungen der Botschaften schätzen lernte (vor allem der eigenen): Meist gab es was zu essen, und meist war es ein Highlight. Einladungen der eigenen (österreichischen) Botschaft waren bei mir besonders beliebt, denn es gab fast immer Semmerln aus Österreich und einen trinkbaren Wein und der Rest war meist auch ok.

In diesem Sinne begab es sich, dass ich mit einigen russischen Freunden auf der Botschaft war, anlässlich des Staatsfeiertages und als ausgewiesener Auslandsösterreicher, zu faschierten Laberln mit einem sehr feschen Weißen und ordentlich Semmerln. Dafür nahm ich auch in Kauf, dass es einen offiziellen Teil gab, wo dann alle möglichen Leute sprachen, die zur Feier des Tages irgendwelche anderen Leute (meist abwesend oder tot oder beides) anstrudelten, meist wedelte dann auch noch wer mit rotweißroten Fähnchen herum (bildlich gesprochen, indem er $Heimat beschwor, schließlich waren wir ja alle im feindlichen Ausland). Und die Bundeshymne wurde auch gespielt, dabei musste man Sorge tragen, das Stück Faschierte rechtzeitig (aka vorher) runter zu schlucken, weil es schaut ja echt Scheiße aus, wenn man noch kaut, während andere schon von den Hämmern singen. Wenn man schon nicht mit singt. Und ansonst musste man aufstehen, weil das gehört sich so, und anschließend betreten herumstehen und warten, bis die Sache vorbei war. Meist war es nach einer Strophe vorbei, wer kann schon mehr als eine Strophe des Bundeshymne? Außer den Deutschen, vielleicht, die dürfen dafür überhaupt nur ihre dritte Strophe singen.

Jedenfalls wurde auch diesmal von der Heimat großer Söhne, dazumals noch ohne Töchter, gesungen, alle standen auf, ich legte mein Stück Laberl auf den Teller, setzte mein übliches Ich-bin-nur-zufällig-hier-Gesicht auf und versuchte, möglichst unauffällig gelangweilt zu schauen – da fragt mich plötzlich Aljeg, mein russischer Spezi: „Wieso heulst Du eigentlich nicht?“

Ich muss ziemlich saublöd dreingeschaut haben. War der Wein so schlecht? Das Faschierte nicht OK? Irgendwer gestorben, als ich gerade nicht aufgepasst hab’?


Wenn nicht geweint wurde, dann war’s nicht schön.

Nach längerer gegenseitiger Ratlosigkeit hab’ ich es dann verstanden: Russen haben ein ungestörtes Verhältnis zu ihrer Heimatliebe und zu ihrem Nationalismus (wobei die Grenzen sehr verschwommen sind), und wenn sie im Ausland leben würden, heimwehkrank und fern von zuhause, und dann beschwöre jemand Mütterchen Russland, komplett mit Borscht und Blini, dann würden sie sofort und ansatzlos heulen, mit strömenden Tränen, und sich gegenseitig in den Armen liegen.

Damals tat ich das als einfach noch ein Merkmal dafür ab, wie emotionell Russen wären, schließlich gilt bei ihnen auch ein Abend unter Freunden nicht als wirklich gelungen, wenn nicht mindestens einmal dabei gemeinsam geheult wurde. Weil es grad so schön war, oder so traurig, oder weil irgendwer grad nicht dabei war, oder manchmal auch nur einfach so. Russen sind sehr emotionell, wobei Väterchen Alkohol gerne mithilft.

Heute, zwanzig Jahre später, ist es ein Mosaikstein für mein Verständnis von Russland. Genauer gesagt: Putins Russland.

Keine Angst, ich werde jetzt hier nicht den Großen Putinversteher aufziehen. Dennoch gibt es logische Erklärungen für die Ereignisse, vor allem seit meinem letzten Blogeintrag über den Ukrainischen Nationalismus. Ich behaupte ja nach wie vor, dass es den „als solchen“ nicht gibt, außer in ukrainischen Emigrantenkreisen in Kanada und Australien. Aber Wladimir Wladimirowitsch arbeitet recht erfolgreich daran, dass er auch in der Ukraine wächst und gedeiht, und nur zu erklären, Herr Putin sei halt dumm und verstehe die Welt nicht wirklich, greift zu kurz. Weil Herr Putin mag ja alles Mögliche sein, aber dumm ist er ganz sicher nicht.

Wer die Gegenwart begreifen will, muss die Vergangenheit kennen. Keine Angst, nicht schon wieder Geschichtsstunde, wir machen nur eine kleine Zeitreise in das Jahr 1864.

Das sind gerade einmal 150 Jahre – vor der Geschichte ein Klacks, ein Lidschlag, aber dennoch Lichtjahre von unserer Realität entfernt. Kein Internet, kein Fernsehen, kein Radio, nicht einmal Telefon. Auch die Photographie steckt noch in den Kinderschuhen, sprich: Es fehlt alles, was zu einer zünftigen Kriegsberichterstattung notwendig ist. Aber es gibt Zeitungen, und der mediale Aufreger des Jahres, von den Salons in London und Paris bis Washington und Wien, ist der Untergang der Tscherkessen.

Der bitte wer?

1864 ist nach offizieller Geschichtsschreibung der Kaukasuskrieg vorbei, den das Russische Imperium seit knapp einhundert Jahren führt. In diesen hundert Jahren erweitert das Zarenreich seinen Einfluss von der Steppe im Norden des Kaukasus über das gesamte Bergmassiv bis an das Schwarze und das Kaspische Meer. Dabei werden eine Reihe von Bergvölkern unterworfen, von denen heute einige wieder bekannter sind, wie die Osseten, die Abchasen, die Inguschen und die Tschetschenen, aber auch heute längst vergessene, wie die Awaren, die Darginer, die Laken, die Lesgier und die Kumyken. Und eben die Tscherkessen. Schätzungsweise drei Millionen von ihnen leben bis dahin an der heute russischen Schwarzmeerküste, mit ihrer historischen Hauptstadt, wo jetzt das russische Sotschi liegt.


Der gemeinsame Drang nach Süden

Der Kaukasus ist ein mächtiges Bergmassiv, mindestens so groß wie unsere Alpen oder der Große Karpatenbogen, unwegsam, bewohnt von mehr als 50 verschiedenen, meist wilden und äußerst kriegerischen Bergvölkern, mit einem Wort ein Ort für Abenteuergeschichten und Träume. Wie alle Völker aus dem „Kalten Norden“ träumen auch die Russen, seit es sie gibt, vom warmen Süden; wo Goethe von Italien schwärmt und von blühenden Zitronen, schwärmen Puschkin und Lermontov vom Schwarzen Meer und, tja, auch von blühenden Zitronen.

Briten und Franzosen sind 1864 gerade dabei, koloniale Weltreiche zu bauen, da finden es alle ganz normal, wenn auch das Zarenreich versucht, sich auszudehnen, und dass dabei nicht zimperlich vorgegangen wird, regt auch keinen auf. Aber die Zeitungen haben die Reportage entdeckt, statt Photos gibt es ausführliche Zeichnungen, und so kommt es, dass dreihunderttausend tote Tscherkessen – verhungert, erschlagen, auf der Flucht ertrunken – die erste masssenmediale Katastrophe bilden. Es ist der erste Genozid der Neuzeit auf europäischem Boden, fünfzig Jahre vor dem Völkermord der Türken an den Armeniern, neunzig Jahre vor dem Holocaust. Die Truppen des Zaren Nikolaus II sehen keine andere Möglichkeit: Georgier, Armenier, Azeri – alle haben sich dem Russischen Reich gebeugt, aber das wilde Bergvolk der Tscherkessen verweigert selbst in der Niederlage den Gehorsam, muss aus dem eroberten Gebiet mit Feuer und Schwert vertrieben werden, um Platz zu machen für russische Sehnsucht nach dem Süden. Und so werden drei Millionen im Lauf des Sommers 1864 vertrieben, so gut wie alle in das damalige Osmanische Reich, die Zeichnungen der halb verhungerten Flüchtlinge, die nicht im Schwarzen Meer ertrunken sind, bei ihrer Ankunft in Istanbul gehen durch die Zeitungen und die Salons Europas.

Parallele zu heute: Es regt sich zwar jeder auf, aber keiner tut was. Das Osmanische Reich nimmt die Flüchtlinge, alles sunnitische Muslime, auf und verteilt sie, wo Platz ist (was oft damit zusammenhängt, dass es dort auch recht unwirtlich ist), so lebt heute der Großteil der tscherkessischen Diaspora im nördlichen Libanon, in syrischen Bergland östlich von Damaskus, im Bergland von Galiläa in Israel, im Kosovo und in der heutigen Türkei, vor allem im Bergland von Anatolien.

Wozu erzähle ich Ihnen das alles?

Weil es Putin erklärt: das sind die historischen Dimensionen, in denen er denkt.

Das finden Sie ein bisserl herb? Dann fragen Sie doch einmal, die Finnen, zum Beispiel, oder deren nahe Verwandte, die Esten. Oder die anderen Balten, wie Letten und Litauer. Oder die Polen. Oder, wenn Sie nicht in den kalten Norden wollen, fragen Sie doch die Tschetschenen. Deren 1864 war halt erst 1995, als russische Truppen ihre Hauptstadt Grosny zerstörten, Haus für Haus, bis so gut wie nichts mehr von der Stadt übrig blieb.

In Wirklichkeit führt Russland heute immer noch Kolonialkriege, in denen es darum geht, anderen Kulturen die eigene als die deutlich überlegene aufzuzwingen. Mit genau derselben Überzeugung schufen die Briten ihr koloniales Weltreich, lernten die Eingeborenen in Afrika, so sie Einwohner einer französischen Kolonie waren, von „unseren Vorfahren, den Galliern“, genau diese Einstellung ließ Kaiser Wilhelm sagen, am Deutschen Wesen werde die Welt genesen.

Die Mehrheit der Russen ist heute ebenso davon überzeugt, am „russischen Wesen“ werde zumindest ihre eigene Welt genesen.

Wobei sich die russische Welt deutlich von unserer, der westlich-demokratisch-aufgeklärten, unterscheidet.

Eine nicht unwesentliche Rolle spielt dabei die orthodoxe Kirche. Als sie sich vor rund tausend Jahren von der römischen abspaltete, ging der Streit darum, ob man sich dem Wesen Gottes mit menschlicher Vernunft nähern dürfe, oder ob schon das Zweifeln am Göttlichen Geheimnis eine Sünde sei. Der Westen brachte die Jesuiten, die Aufklärung und Max Weber hervor, der Osten hält rationelles Denken an und für sich für eine Sünde. „Orthodox“  bedeutet, wörtlich übersetzt, rechtgläubig, die Orthodoxe Kirche ist – fast noch mehr als die Römisch-Katholische – davon überzeugt, im Besitz der Wahren Reinen Lehre zu sein. Und in der ist es muffig-spießig, ist schwul sein heilbar und liberal ein Schimpfwort, sind Neger (gerne Schokoladnij genannt) Untermenschen und der Liebe Gott ist Russe.

Zyniker sagen jetzt, Geschichte lasse sich eben nicht betrügen. Nach dem Zerfall des Kommunismus hatten es die Osteuropäer leichter, die hatten eine bürgerlich-demokratische Tradition. Die Russen haben da vor 1917 nicht viel außer einer ziemlich absolutistischen, ziemlich klerikal-faschistischen Monarchie. Und so wie der (politische) Kommunismus formulierte, dass der Faschismus die politische Ausdrucksform des Spießertums sei, stimmt es auch anders rum, dass das – faschistische – Sowjetsystem eine einzige riesige „Spießerklasse“ hervorgebracht hat. Oder, um ein Bonmot meiner Tante Jolesch abzuwandeln: Die Juden haben sie erschlagen, die Adeligen auch, die Intellektuellen ins Arbeitslager gesteckt und die Großbürger vertrieben. Geblieben sind die Hausmeister, und die machen jetzt den Staat. Putin als Allrussischer Hausmeister, wie einst der Mundl.

Postsowjetische Depressionsoptik

Auf der Suche nach der Großen Russischen Seele, der „Duscha russkaja“, wie sie denn wirklich sei, landete ich einst in Nischnij Novgorod, dass sich damals gerade von „Gorkij“ wieder mit seinem alten Namen umgenannt hatte, und fand dort eine wunderschöne, alte Handelsstadt, völlig verfallen, sowie reichlich postsowjetischen Realismus, Marke Trübsinn. Ich brachte ein paar wunderschöne, tief depressive Schwarzweißbilder mit sowie den klugen Satz eines jüdischen Philosophieprofessors an der lokalen Universität, der meinte, die Russen hätten im Zweiten Weltkrieg „den Deutschen Faschismus besiegt um den Preis, den eigenen am Leben erhalten zu haben.“ So kann man das natürlich auch sehen, aber so unrecht hatte der Professor nicht: Es gibt keinerlei demokratische Traditionen in Russland, und die Aufklärung hat allerhöchstens in ein paar Salons in Petersburg stattgefunden.

Ich denke mir, so gesehen passt es perfekt, dass sich unsere heimischen rechten Recken so hervorragend mit den Russen vertragen – da treffen sich verwandte Seelen. Oder so.

Und da, mitten drin, agiert jetzt der kleine Wladimir Wladimirowitsch, von der Vorsehung auserkoren, Russland zu retten. Dabei lässt er keinen Zweifel an seinen Grundwerten, schließlich nennt er seine politische Bewegung nicht umsonst „allrussisch“ und bekräftigt damit seinen Anspruch, in der politischen Tradition aller russischen Machthaber seit Ivan dem Schrecklichen, dem Begründer des modernen Russland, zu stehen. Und ausgerechnet der kleine Wladimir muß jetzt plötzlich Allrussisches Kernland – und das ist die Ukraine nun einmal für jeden russischen Nationalisten – verteidigen, und das gelingt ihm mehr schlecht als recht.

Denn selbstverständlich lag die Grenze zwischen den Guten und dem gottlosen Ausland noch vor zwanzig Jahren in Pressburg und Berlin, heute steht sie an der russischen Grenze, und aus russischer Sicht ist die gottlose Nato, in der Damen mit Bart Präsidenten inteviewen, die größte Bedrohung des Wahren, Echten und Schönen überhaupt.

So denkt die Mehrheit der russischen Bevölkerung. Und natürlich spielt da die Kontrolle über die Medien eine Rolle, aber die Prädisposition dafür ist gegeben.

Wobei, realpolitisch gesehen, die große Bedrohung für die postsowjetische Oligarchie darin besteht, dass sich ukrainische Zerfallsbestrebungen auf russisches Kernland übertragen. Oder andersrum: Derzeit bekommen die Ukrainer an ihrer (langen) Grenze zu Polen, erste Reihe, fußfrei, vorgeführt, was es für Vorteile bringen kann, in der EU und eine kapitalistische Demokratie zu sein. Wenn morgen tatsächlich auch die Ukraine ein ähnlicher Erfolg wäre, wäre der Dominoeffekt eine echte Bedrohung.

Angst vor dem Dominoeffekt hat schon die USA in die erste Niederlage ihrer Geschichte in Vietnam geführt. Oder auch: Geschichte wiederholt sich. Ob als Tragödie oder als Farce, wird sich erst herausstellen.

Wie schon eingangs behauptet, will ich kein Putinversteher sein, aber dass ihm das nicht gefällt, kann ich nachvollziehen. Wie immer man das interpretieren möchte.

Vorsicht vor dem Trugschluss: Russland ist heute nicht so, wie es ist, weil Wladimir Putin so denkt, wie er denkt. Es ist genau anders rum: Eben genau weil Russland so ist, wie es ist, kann einer, der so denkt wie Putin, überhaupt Erfolg haben. Weil sonst wedelt hier der Schwanz mit dem Hund.

Denn, damit wir uns nicht falsch verstehen: Der – oben erwähnte – Krieg gegen die Tschetschenen wurde noch unter Boris Jeltsin begonnen.

„Schön“, sagt plötzlich Tante Erna aus dem Hintergrund, „alles sehr verständlich und einleuchtend. Und was bedeutet das im Klartext? Wie sollen wir jetzt mit dem Typen umgehen?“

Gute Frage. Ich weiß es nicht.

Ein Ansatz, wie es vielleicht geht, findet sich im britischen „Economist“, der da meint, wenn Ölpreis und Rubel weiterhin so fallen, wie sie es derzeit tun, müsse der Westen nicht mehr sehr viel dazu tun, außer es auszusitzen.

Das scheine, andererseits, so der Economist, auch Putins Strategie zu sein: Genau so wie Europa nach 150 Jahren das Schicksal der Tscherkessen vergessen hat, genau so wird sich der Wirbel um die Krim und den Dombass wieder legen, zwischenzeitlich verkaufen wir den wirtschaftlichen Einbruch als Schuld der Bösen Ausländer, und der Ölpreis wird schon wieder steigen, schließlich ist es bis jetzt auch immer wieder gestiegen.

Kann sein, dass da die kognitiven Dissonanzen sehr schrill werden. Kann sein, dass das recht holprig wird. Im letzten Posting schrub ich, Putin mache jetzt einen auf Milošević. Ich relativiere das jetzt hier, ein wenig, denn es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen den beiden: Russland hat Atomwaffen.

Wir leben in interessanten Zeiten. Aber auch das hab’ ich schon mal gepostet.