Seit Einführung des Euro ist das im Umlauf befindliche Bargeld um das vierfache im Wert gestiegen. Wo genau all diese Euro sind, weiß eigentlich niemand. Die EZB in Frankfurt vermutet, dass ein Teil davon außerhalb der Eurozone kursiert. Zum Beispiel im Kosovo und in Montenegro, wo der Euro ganz offiziell als Landeswährung verwendet wird, ohne dass es eine offizielle Erlaubnis dafür gäbe.
(Dieser Text erschien vor einem Jahr in CASH•FLOW. Mittlerweile ist Milo Đukanović wieder Ministerpräsident von Montenegro und soll sein Land in die EU führen. Der Artikel hat nichts an Aktualität verloren … )
Der jährliche Bericht der Europäischen Zentralbank (EZB) ist zugegebenermaßen nicht jedermanns Vorstellung einer vergnüglichen Sonntagsnachmittagslektüre. Wer sich jedoch die Mühe macht, das Monster-pdf vom Presse-Download-Server in Frankfurt am Main durchzuforsten, kann ein paar interessante Details ausgraben.
Zum Beispiel die Sache mit den im Umlauf befindlichen Banknoten. Die werden nämlich immer mehr.
Eigentlich sollten sie ja immer weniger werden, schließlich tragen wir, dank stetig steigender Volumina der Kreditkarten-Transaktionen, sich rasant vermehrender Bankomatkassen und des ebenfalls per definitionem bargeldlosen Einkaufens im Internet, das ja angeblich auch stetig wächst, immer weniger Banknoten im Börserl herum. Möchte man annehmen.
Doch dem ist, wie schon erwähnt, offensichtlich nicht so, denn sowohl die Anzahl als auch der Wert aller im Umlauf befindlichen Banknoten ist stetig steigend. 2002, als die ersten Eurobanknoten ausgegeben wurden, druckten die jeweiligen nationalen Notenbanken insgesamt rund acht Milliarden Stück Banknoten mit einer Gesamtnominale von knapp über 200 Mrd. Euro. Acht Jahre später, Ende 2010, waren vierzehn Milliarden Banknoten im Umlauf, mit einer Gesamtnominale von 840 Mrd. Euro. Das ist, bevor Sie nachrechnen, in etwa eine Verdoppelung der Stückzahl, bei einer Vervierfachung der Nominale. Womit sich die Frage stellt: Wo ist all dieses Bargeld?
Na ja, werden Sie jetzt einwenden, schließlich sind seit 2002 eine Reihe von Länder der Eurozone beigetreten, das hat sicher einiges verändert. Mag sein, erwidert der Statistiker der EZB, aber aus der Wachstumskurve ist das nicht ersichtlich, und eine Vervierfachung erklären die paar Beitritte auch nicht wirklich. Der einzige echte Blip in der sonst linearen Kurve ergab sich im Oktober 2008, als anlässlich der Lehmann-Pleite der Wert der Noten im Umlauf innerhalb eines Monats um rund 40 Mrd. Euro anstieg: Offenbar hat die Krise einige dazu verleitet, wieder auf Bargeld unter der Matratze umzusteigen.
Und obwohl die Zahlen der EZB auch die Sichteinlagen bei den Banken beinhalten, dürfte das Gros dieses Blips tatsächlich unter diversen Matratzen und in verschiedensten Gurkengläsern zwischen Rovaniemi und Palermo verschwunden sein, umso mehr, als die EZB in ihrem jüngsten Bericht anmerkt, dass die Mehrheit der damals ausgegebenen Scheine bis heute nicht zurückgekehrt sei, während die „Lebenszeit“ eines normal im Umlauf befindlichen Scheines, vor allem bei niedrigeren Nominalen, bei durchschnittlich achtzehn Monaten liegt.
Doch das erklärt nur einen, noch dazu relativ geringen, Teil des vervierfachten Wertvolumens, wie auch die EZB zugibt. Linear aufgeteilt auf alle Bürger der Eurostaaten ergäbe das einen Barbetrag von 2.300 € pro Bürger, von der Oma bis zum Kleinkind. Und selbst wenn man die Bargeldbestände der einzelnen Zentralbanken berücksichtigt, schwappt da ziemlich viel Cash durch die Gegend.
Wo genau all dieses Bargeld herumgeistert, weiß im Grunde niemand. Die EZB vermutet, dass rund ein Viertel des Gesamtvolumens außerhalb der Eurozone in Umlauf ist. (Anderen Quellen zufolge ist das noch konservativ geschätzt.) Als Grund nennen die Eurobanker auf ihrer Website „steigenden Bedarf aus osteuropäischen Nicht-EU-Staaten“, deren Währung in der Finanzkrise „gegenüber dem Euro stark abgewertet“ hätten. Wobei unter „osteuropäischen“ Staaten hauptsächlich der Balkan gemeint sein dürfte, wo der Euro nahtlos das Erbe der Deutschen Mark angetreten hat.
Dabei verschweigt das eigene Kapitel „Der Euro außerhalb der Eurozone“ auf dem EZB-Server dezent, dass in zwei Ländern auf dem Balkan – Kosovo und Montenegro, beides Nachfolgestaaten des alten Jugoslawien – der Euro ganz offiziell nationales Zahlungsmittel ist, und es keine eigene nationale Währung gibt. Und zwar ohne dass die EZB oder sonst wie irgend jemand um Erlaubnis gefragt wurde.
Schon im alten Jugoslawien hielt man von der deutschen Währung mehr als vom eigenen Dinar, gespiegelt in dem klassischen Witz: „Frane hat von seinem Onkel in Amerika 50.000 Dollar geerbt.“ „Wie viel ist das in unserer Währung?“ „Na, in etwa hunderttausend D-Mark.“
Die Tradition hat sich bis heute erhalten, schließlich hat Slowenien der Euro schon eingeführt, während EU-Beitrittskandidat Kroatien seinen Bürgern ganz offiziell Bankkonten und Sparbücher in Euro anbietet, die diese auch fleißig nutzen. Größere Summen, etwa für einen Pkw oder eine Immobilie, werden selbst in offiziellen Ankündigungen in Euro angegeben.
In der kroatischen Zentralbank in Agram erklärt man dazu, das sei eine bewusste Maßnahme, um vor allem die Schattenwirtschaft, die sich vor und während des Bürgerkrieges ziemlich breit gemacht hatte, auszutrocknen, schließlich sei es zwar legal, Euro zu besitzen, aber illegal, sie selber in Kune zu tauschen, außerdem entziehe man so dem Schwarzmarkt größere Summen Bargeld, ohne die dieser nur schlecht funktionieren kann.
Genau das, vermuten Insider, habe die Regierungen in Podgorica und Priština bewogen, es anders zu machen. Sprich: Sich statt einer eigenen Währung gleich mit „The Real Thing“ – äh, Währung – zu begnügen.
Beim Kosovo ist das eher verständlich, ist doch die ehemals serbische Provinz heute eine Art Kolonie der Europäischen Union, komplett mit einem EU-Statthalter, der Hoher Kommissar genannt wird. In ihrer ersten Kolonie, Bosnien und Herzegowina, hatte die EU noch eine eigene Währung aufgelegt, die so genannte „Konvertible Mark“, im Kosovo hat man von Anfang an darauf verzichtet. Außerdem kommt die Mehrheit des Staatshaushalts sowieso direkt aus Brüssel, da spart man sich dann auch gleich das Umrechnen.
Im unabhängigen Staat Montenegro, der sich im übrigen friedlich von Serbien gelöst hat und auch mit seiner Anerkennung weltweit keinerlei Probleme hat, ist die Sachlage anders. Um das zu erklären, muss man ein wenig ausholen.
Montenegro ist nicht Italienisch für Schwarze Berge (sonst hieße es Monteneri), sondern Venezianisch, und nur eine Übersetzung des slawischen Crna Gora, das sowohl mit schwarze Berge als auch schwarzer Wald oder schwarz bewaldeter Berg übersetzt werden kann. Ungefähr so stellt sich das Land auch dar: Über der lieblichen Bucht von Kotor erhebt sich ein dunkles, steil aufragendes Bergmassiv, das ziemlich unfreundlich und ziemlich uneinnehmbar aussieht, die Venezianer jedenfalls haben es in sieben Jahrhunderten nicht probiert. Hier ist mit der Tara-Schlucht der tiefste Canyon Europas, während die Täler nur über schmale Bergpässe erreichbar sind. Die Gegend ist im europäischen Vergleich recht dünn besiedelt, Strassen gibt es kaum, und selbst die Einfahrt zur Bucht von Kotor muss man von der See aus in der tief zerklüfteten Küstenlandschaft der südöstlichen Adria erst einmal finden.
Ach ja, und wild romantisch und pittoresk ist es natürlich auch, die Bucht von Kotor gilt unbestritten als einer der hübschesten Orte im ganzen Mittelmeer.
Politisch ist es weniger romantisch, die Macht liegt in Wahrheit bei einer Reihe von Klan-Führern aus den jeweiligen Tälern und Poljes, und die Strukturen sind eher feudal. Dafür hat Montenegro als einziger Nachfolgestaat des alten Jugoslawien eine lange Tradition der Eigenstaatlichkeit und wird seit dem elften Jahrhundert abwechselnd von Königen, orthodoxen Fürstmetropoliten und türkischen Sandschaks regiert und wurde erst 1919 Teil des Königreichs Jugoslawien.
In den Wirren des zerfallenden Jugoslawiens, also in den 90ern des letzten Jahrhunderts, hat sich hier das Zentrum des internationalen Zigarettenschmuggels etabliert. Auch das steht in einer langen Tradition, von der schon Karl May in „Durch die Schluchten des Balkan“ schreibt. Schmuggeln gehört hier zum Alltag.
Es folgt der Auftritt des jugendlichen Herrn Milo Đukanović, 1962 in Nikšić geboren, der wurde 1991 mit nur 29 Jahren Premierminister und 1998 Staatspräsident der Teilrepublik Montenegro. Und 1999 wurde die D-Mark zur offiziellen Staatswährung des – damaligen – Teilstaates der Rest-Bundesstaates Jugoslawien erklärt. Gleichzeitig begann Đukanović, für die Eigenstaatlichkeit Montenegros zu werben.
Böse Zungen haben dafür folgende Erklärung: Đukanović, gegen den in Deutschland und Italien Untersuchungen wegen Zigarettenschmuggels laufen, habe in der Unabhängigkeit einen eleganten Ausweg gesehen: Als Staatsoberhaupt eines souveränen Staates wäre er ziemlich immun. Wegen dem bisserl Zigarettenschmuggel. Und das mit der D-Mark wäre auch einfach zu erklären, denn die emsigen Montenegriner zeigten wenig Lust, den ziemlich elenden Wirtschaftskurs des Slobodan Milošević und den damit verbundenen Fall des Dinar mit zu finanzieren, ausserdem kann man sich mit Dinar auf dem internationalen Schmugglerparkett allenfalls lächerlich machen, aber die D-Mark ist doch was Solides, und praktisch war es auch noch, weil ab da brauchte man nicht dauernd umrechnen.
Irgendwie nahm die Bundesrepublik Deutschland das damals wohlwollend zur Kenntnis, oder es ist einfach nicht weiter aufgefallen, jedenfalls ging es auch international klaglos über die Bühne.
Wie man aus der Geschichte weiß, wurde Montenegro am 3. Juni 2006 ein unabhängiger Staat, während Đukanović, der im Februar 2008 erneut Premierminister geworden war, diesmal eines unabhängigen Montenegro, sich im März 2008 einer Untersuchungskommission in Bari in Italien stellte, die zu einem Ergebnis kam, das nie veröffentlicht wurde.
Nach wie vor gibt es unappetitliche Gerüchte über den Schmuggel von Menschen, Waffen und Narkotika sowie ein paar Auftragsmorde, unter anderem an Duško Jovanović, Herausgeber der regierungskritischen Zeitung Dan. Egal. Seit 2010 jedenfalls ist Igor Lukšić Premierminister, und das ehemalige ZK-Mitglied der jugoslawischen Kommunisten, Milo Đukanović, ist in die politische Pension verschwunden, mit knapp fünfzig Jahren ruht er sich auf dem Lorbeer aus, Montenegro in die Unabhängigkeit geführt zu haben.
Ach ja, ich vergass es zu erwähnen: Als die D-Mark in den Euro aufging, nahm Montenegro selbstverständlich auch den Euro an. Und das ging ebenfalls ohne gröberen außenpolitischen Schluckauf über die Bühne.
Das würde, wenn man es konsequent durchdenkt, natürlich einen Großteil des physischen Verbleibs eines Viertels des Bargeldumlaufs der Eurozone erklären, und auch sein stetiges Wachsen: Offenbar gehen die Geschäfte gut. Inwieweit die kalabrische N’Drangheta, schließlich keine zweihundert Kilometer entfernt am anderen Ufer der Adria, mit von der Partie ist, will niemand sagen, außerdem gilt selbstverständlich für alle Beteiligten das Unwort dieses Jahrzehnts, nämlich die Unschuldsvermutung.
Mittlerweile verdient Montenegro sein BNP offiziell hauptsächlich aus dem Tourismus, schließlich ist es in Kotor ja wirklich hübsch. Die Mehrheit der Touristen besteht aus Russen, die die cyrillischen Aufschriften ebenso schätzen wie das orthodoxe Weltbild, alles wie zu Hause, nur das Wetter ist deutlich besser, und man zahlt alles in Euro, auch die eigenen Bankeinlagen. Die Mehrheit der besten Grundstücke entlang der pittoresken Küste ist längst fest in russischer Hand, heuer im Sommer ankerten vor Kotor schon die dicken Yachten, die so groß sind, dass sie nicht in der Marina anlegen können, sondern nur am Kai der Fähre. Und wo dann für die Dauer von zwei Stunden zehn finster blickende Matrosen Wacht halten, bis die 70-Meter-Yacht wieder auf Reede geht. Adriatischer Alltag 2011.
Selbstverständlich ist Montenegro längst offizieller Kandidat zur Aufnahme in die EU, auch um die entsprechende NATO-Mitgliedschaft ist man bemüht, sieht alles ganz rosig aus.
Und an der Grenze herrscht, vor allem für Touristen, ein strenges Regime: Alle Barmittel über 3.000 Euro müssen bei der Einreise angemeldet werden, ebenso alle Kredit- und Bankkarten, die zur Bargeldabhebung an den lokalen Bankomaten – in Euro, selbstverständlich, in was denn sonst – berechtigen. Weil sonst darf man weder Karten noch Bargeld wieder ausführen. Wäre ja noch schöner, hier.