Als ich zehn Jahre alt war, wurde mein Vater nach Genf in der Schweiz versetzt. Wir fanden ein Haus in einer Anlage von neu erbauten Einfamilienhäusern; ich, bisher eine Altbauwohnung im achten Wiener Gemeindebezirk gewohnt, war hin und weg ob so viel Platz und Garten und Grün und Weite.
Unsere direkten Nachbarn waren Kanadier, mit dem Familiennamen Hawrylyshyn. Schon beim ersten Treffen lernten wir, dass die Familie eigentlich aus der Ukraine stammte, sie verstanden sich als Exilukrainer, und teilten das auch jederzeit und freizügig überall mit. Vater Bob (eigentlich hieß er Bohdan, das erfuhren wir aber erst später) lehrte am Genfer Centre d’Etudes Industrielles (das CEI war eine Business School, die später im IMD aufging); der Großvater kam, als er erfuhr, dass meine Mutter aus Österreich war, strahlend zum Zaun und sagte, auf gebrochenem Deutsch „I bin auch Eesterreicher“. Er war in Lemberg geboren und hatte im ersten Weltkrieg in der k.u.k. Armee gedient.
Vater Bohdan lehrte mich, dass die ukrainische Fahne gelb und blau sei, gelb wie die Kornfelder der Ukraine und blau wie der Himmel über ihnen, und dass sie, so lange die Ukraine nicht frei sei, nur verkehrt geflogen werde, also gelb oben und blau unten. Mutter Hawrylyshyn war in etwa so blond wie das Gelb in der Ukrainischen Fahne, zusammen hatten sie drei Kinder: Lassek, der ein Jahr jünger war als ich, sowie die Mädchen Tussa und Tina, alle drei ebenso blond.
Die Ukraine und der Knoblauch
Im Hause Hawrylyshyn war Ye Olde Country stets präsent. Tina, die jüngste, war etwa vier, als sie eines Tages bei uns in der Küche mit einem Kranz Knoblauch um den Hals erschien. „Mami sagt“, so Tina auf den fragenden Blick meiner Mutter, „das hilft gegen Bandwürmer.“
Meine Mutter sagte nichts und gab Tina ein Wurmmittel (unser anderer Nachbar war ein Bauernhof, so was hat man als kluge Mutter stets im Haus).
So lernte ich im zarten Alter von zehn Jahren, dass die Ukraine ein eigenes Land sei, mit einer eigenen Fahne, aber derzeit besetzt und in Unfreiheit, und dass man dort mit mitteleuropäischer Kultur und Hygiene etwas anders umging als bei uns.
Einige Jahre später fand ich bei einer Bibliotheksauflösung in Wien eine „Grammatik der Ruthenischen Sprache“, ein k.u.k. Schulbuch aus dem 19. Jahrhundert. Ich bin ein Journalist, also neugierig. Weshalb ich seither weiß, dass Ruthenisch die Eindeutschung des Wortes Rus ist, früher sagte man auch Reussen dazu und bezeichnete damit eine Gegend (und deren Bewohner) dort, wo heute Ungarn, Polen, Rumänien, die Slowakei und Westukraine aneinander stoßen. Der Ausdruck Ruthenen selbst bezeichnet die seit etwa dem 15. Jahrhundert im Großfürstentum Litauen, in Polen-Litauen und dem Königreich Ungarn lebenden Slawen östlichen christlichen Glaubens; die (Groß-)Russen hießen damals bereits Moscovitae oder Russi.
Im k.u.k. Kronland Galizien war Ruthenisch, neben Polnisch, eine offizielle Sprache.
Im postsowjetischen Kiew
Mehr als dreißig Jahre nach unserem Erstkontakt mit der Familie Hawrylyshyn, da hatte sich die Sowjetunion schon aufgelöst und die Ukrainische Fahne wehte richtig herum am Fahnenmast, traf ich Tina, das jüngste Nachbarskind, erneut. Es war in Kiew am Flughafen, es war spät abends, und nur weil sie jetzt unabhängig waren, hatten die neuen ukrainischen Grenzbehörden ihre sowjetischen Methoden noch lange nicht geändert, sprich: Es war mühsam. Tina trug diesmal keinen Kranz Knoblauch, sondern hochhackige Stiefel bis übers Knie und trat gegenüber den postsowjetischen Hütern der neuen Staatlichkeit resolut und in fließendem Ukranisch auf. In fünf Minuten waren wir durch alle Formalitäten durchgewunken und standen vor der Ankunftshalle in der ebenso dunklen wie beißenden Kälte, in Verhandlungen mit mehreren Taxifahrern. „Wenn Du irgend etwas brauchst hier, ruf’ mich an“, sagte Tina und stieg in einen großen schwarzen Geländewagen mit verdunkelten Scheiben.
Nun will ich weder dem alten Bohdan, oder Bob, denn „Bochdan“, wie es korrekt ausgesprochen wird, konnte in Genf keiner aussprechen, außer vielleicht meiner Mutter und mir, also ich will weder Bob noch seinen Kindern unterstellen, mit der Mafia etwas zu tun zu haben, im Gegenteil, ich schätze Bob Hawrylyschyn als einen hoch korrekten Menschen ein, aber schließlich war er jahrelang Berater der ukrainischen Regierung und hat in Kiew eine Filiale der Schweizer Managementschule IMD aufgebaut, da ließ es sich wahrscheinlich nicht vermeiden, auch mit dieser Gesellschaftsschicht in Berührung zu kommen, und nur weil Tina Stiefel bis über die Knie trug, musste sie noch lange nicht dazugehören, schließlich lag tatsächlich ordentlich Schnee.
Es ist in der Ukraine eben vieles nicht so, wie es auf den ersten Blick erscheint. Nicht nur in jüngster Zeit, sondern seit je her.
Andere Völker sind älter
Wobei „von je her“ ein zeitlich dehnbarer Begriff ist. So gibt es Völker, die sind wirklich alt. Die Armenier, etwa, oder die Georgier, wenn wir jetzt einmal im Spektrum der ehemaligen UdSSR denken, aus deren Zerfall ja die Ukraine erst jüngst als eigenständiger Staat entstand. Aber die Ukrainer sind es nicht, jedenfalls nicht als Nation. Ukraine als eigenständige Nation ist eine Erfindung des 19. Jahrhundert, unter der Patronanz der Habsburger und mit Ablehnung durch das russische Zarenreich.
Nämlich weil das mit die Geschichte – also erstens ist es wie überall kompliziert, und zweitens haben wir das in der Schule ja nicht gelernt und daher hat kaum wer Ahnung davon. Wäre aber praktisch, denn es erklärt sehr viel von dem, was da gerade in der Ukraine abgeht.
Wobei man auch noch säuberlich zwischen Mythen und tatsächlicher Geschichte unterscheiden muss.
Die Wikinger – ja, tatsächlich, die – waren als ebenso unternehmungslustig wie reisefreudig bekannt, und das nicht nur nach Westen, wo ja Eric der Rote bis nach Neufundland kam, sondern auch nach Osten, sozusagen auf die andere Seite hin. Dort fuhren sie auf Flüssen wie Dnjestr und Dnjepr mit ihren Drachenschiffen von Skandinavien nach Südosten bis an das Schwarze Meer und begründeten dabei eine Reihe von Städten, als Handelsniederlassungen, respektive trieben mit den Städten, die sie schon vorfanden, Handel. Man nennt diese Wikinger auch Waräger, angeblich sind sie für die unpackbar blauen Augen sowie das leuchtende Strohblond der Ukrainerinnen verantwortlich, oder so ähnlich. So weit die Fakten.
Der Mythos erzählt von einem Stamm der Wikinger, der sich Rus nannte. Von denen gibt’s aber keine geschichtlichen Bezeugungen, also gibt es sie erst mal offiziell nicht. Was die Rus oder Waräger oder wen auch immer, nicht davon abhält, ab dem zehnten Jahrhundert als Kiewer Rus aufzutreten, als Großreich der Slawen so in etwa dort, wo die heutige Ukraine ist, wir wollen das jetzt im Detail nicht diskutieren.
Der Mythos des (russischen) Slawentums erzählt von den zehn weisen Männern, die in einem goldenen Boot den Dnjepr herunterkommen und in der Stadt Kiew an Land gehen, um dort auf den sieben Hügeln der Stadt das neue (orthodoxe a.k.a rechtgläubige) Rom zu gründen.
Die Geschichte wieder weiß, dass der warägische Großfürst Wladimir I. Swjatoslawitsch 899 in Kiew zum byzantinisch-orthodoxen Christentum konvertierte, weshalb ihn die Russen den Heiligen nennen und in Kiew die Wiege ihrer Nation sehen.
So weit, so verwirrend
1240 fiel Kiew, die Goldene Pforte, als letzte große Stadt im Zuge der mongolischen Invasion der Rus, und wurde völlig niedergebrannt, das ist auch das Ende des Kiewer Rus. Erst dreihundert Jahre später eroberte Iwan IV, Großfürst von Moskau, die tatarischen Khanate Kasan und Astrachan und legte damit den Grundstein zum modernen russischen Großreich. Die Geschichte dankte es ihm, indem sie ihn den „Schrecklichen“ nannte, wobei die Übersetzung fehlerhaft ist, denn die Russen nennen ihn groznyj, was der „Drohende“, der „Strenge“, „der Furchteinflößende“ bedeutet, wahrscheinlich ist das „schrecklich“ ein früher PR-Spin (katholischer) europäischer Fürstenhöfe, gegenüber dem neuen Mitspieler, der noch dazu die „falsche“ Religion hatte. However.
Jedenfalls versteht die russische Geschichtsschreibung Moskau seither als legitime Nachfolgerin der Kiever Rus, konsequenterweise nannten sich die Zaren seit Iwan „Herrscher aller Russen“ und meinten damit auch Kiew und Minsk, also die Ukraine und Weißrussland.
Und Kiew selber? Versank nach dem Tartarensturm in die Mittelmässigkeit und wurde erst eine Provinzstadt der litauischen Großfürsten und später eine ebensolche im Königreich Polen.
Die Polen waren katholisch, die lokalen Ruthenen und Russinen orthodox, das klingt nach Ärger, und so war es auch. Wobei die anti-polnischen Bewegungen nichts von Unabhängigkeit redeten, sondern von der Vereinigung mit dem russischen Mutterland. Das gelang auch unter dem Hetmann der Kosaken Bogdan Chmelnytzkyj, dieser besiegte in mehreren Schlachten diverse polnische Heere, meuchelte bei der Gelegenheit auch ein Fünftel der (damaligen) ukrainischen Juden, um schließlich 1654 den Zusammenschluss des neuen Kosakenstaates mit dem russischen Zarenreich zu feiern.
Seither ist Kiew „wieder“ russisch, denn Chmelnytzkyj verstand sich als Russe. Von „ukrainischem“ Nationalismus war da weit und breit noch nichts zu sehen.
Galizien als Schlüssel
Die Habsburgern erbten 1772 das Königreich Galizien, das reichte von Krakau über Lemberg bis Ivano-Frankowsk, grosso modo die heutige Westukraine und weite Teile Südpolens. Im so genannten Ausgleich“ von 1867 wurde Galizien cisleithanisch und de facto polnisch. (Dass uns Österreicher heute die Polen so mögen, beruht ja mehrheitlich darauf, dass Polnisch als Sprache (und Kultur) über hundert Jahre nur im österreichischen Galizien überlebte, die ersten polnischen Lehrbücher sind ebenso k.u.k.-Erzeugnisse wie das ruthenische aus meiner Bibliotheksauflösung.)
Egal. Die Polen im Westen Galiziens waren deutlich mehr als die Ruthenen im Osten, der polnische Adel beherrschte die Alltagspolitik. Den Ruthenen gefiel das nicht, im Nationalitätenstreit des 19. Jahrhunderts bedeutete das, dass sich ruthenische Unabhängigkeitsbestrebungen entwickelten, mit dem Zentrum in Lemberg, diese wurden jetzt auch auf Kiew ausgedehnt. Und jetzt erst entstehen – vor allem im europäischen Teil der Ukraine, also im österreichischen Ostgalizien – nationale ukrainische Bestrebungen, die einen unabhängigen Staat als Endziel sehen und nicht die großrussische Lösung einer Vereinigung. Die Österreicher förderten, schon aus anti-russischen Überlegungen, die Entstehung einer autochthonen „kleinrussischen“ Unabhängigkeitsbewegung. So gab es im Ersten Weltkrieg sogar einen offiziellen Kronprätendenten für ein nach dem (möglichst gewonnenen) Krieg zu gründendes unabhängiges Königreich Ukraine, Wilhelm von Habsburg-Lothringen.
Was es so alles gab, in der Geschichte, wirklich erstaunlich.
Geschichte ist noch viel erstaunlicher
1917, nach der Russischen Revolution, entstand ein eigenständiger ukrainischer Staat mit Kiew als Hauptstadt. Ein Jahr später, mit dem Zerfall der Donaumonarchie, zerfiel auch Galizien, der Westteil wurde polnisch, das Gebiet um Lemberg schloss sich noch 1918 dem neuen Staat Ukraine an. Doch das Konstrukt hält nicht, im Vertrag von St. Germain geht die Westukraine an Polen, während der Ostteil sich unter Symon Petljura noch bis 1920 der Roten Armee widersetzt. Ach ja, bei der Gelegenheit werden von Herrn Petljura bei diversen Pogromen in der unabhängigen Ukraine bis zu 50.000 Juden ermordet.
Die Sowjets förderten die Ukrainisierung der neuen Sowjetrepublik, allerdings im Großrussischen Sinn, der die Einheit zwischen Schwarzrussen (Moskau), Weißrussen (Minsk) und Rotrussen (Kiew) in einem einzigen Herrschaftsgebiet postuliert. (Das mit den Farben stammt aus dem Mittelalter. Im byzantinisch-griechischen Verständnis war Kleinrussland das Gebiet um Kiew, Großrussland alles andere). Jedenfalls bekam die Ukraine erst unter den Sowjets eine eigene staatliche Struktur und eine einheitliche Staatssprache und -schrift. Dass heute in der Ukraine in allen bis auf zwei der Oblasti mehrheitlich Ukrainisch gesprochen wird, verdankt die Ukraine den Sowjets mindestens ebenso wie dem Vorgänger von Janukowitsch, Viktor Juschtschenko, der während seiner Amtszeit die Verbreitung des Ukranischen sehr vorantrieb.
Im Zweiten Weltkrieg kamen dann die Deutschen, komplett mit Plänen für einen ukrainischen Vasallenstaat. Noch vor dem Einmarsch regulärer deutscher Truppen im August 1941 rief Stepan Bandera in Lemberg eine unabhängige Republik Ukraine aus und massakrierte zur Feier des Tages 7000 Menschen, meist Juden oder Kommunisten (oder beides). Die Deutschen nahmen wenig später Kiew ein und – erraten: massakrierten aus diesem Anlass 30.000 Juden in Babi Yar. Stepan Bandera steckten sie zuerst ins Lager, denn eine unabhängige Ukraine stand nicht auf ihrem Programm, später organisierte Bandera für die Deutschen den antisowjetischen Partisanenkampf. Während Bandera 1946 nach München floh, gingen die Partisanenkämpfe bis in die Fünfzigerjahre weiter. (Bandera wurde übrigens 1959 im München von KGB-Agenten auf offener Strasse ermordet.)
Zuletzt gab’s noch die Krim
Stalin gab der Ukraine, vielleicht als Ausgleich für erlittenes Unbill, nach dem zweiten Weltkrieg das Gebiet um Lemberg zurück, das er den Polen wegnahm, sowie die Karpatoukraine, die er von der Tschechoslowakei abtrennte. Sein Nachfolger Chruschtschow schenkte Kiew 1954 auch noch die Krim, die bis dahin zur russischen SSR gehört hatte, zum Anlass des 300-Jahre Jubiläums der Unterzeichnung des Vertrages von Jaroslawl (Sie erinnern sich: Kosakenhetman Chmelnytzkyj, Anschluss an Moskau). Warum genau, weiß man bis heute nicht, vielleicht, weil Chruschtschow selber aus der Ukraine stammte, allerdings aus dem auch heute noch mehrheitlich russischen Donez. Vielleicht auch, weil es ja egal war, schließlich war ja alles Teil der Großen Union der Sozialistischen Republiken. Bei diesem feierlichen Anlass wurden übrigens keine Juden massakriert. Und auch eine unabhängige Ukraine war kein Thema.
Und dennoch gibt es diese Ukraine heute, fünfzig Jahre später. Man muss wirklich bewundern, mit welcher Zielstrebigkeit und welchem Einsatz die diversen exilukrainischen Organisationen, von München bis Kanada, von Lemberg ausgehend, anlässlich des Zerfalls der Großen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken die Unabhängigkeit der Ukraine betrieben und tatsächlich erreichten.
Ich behaupte ja, dass diese Unabhängigkeit der Ukraine den Russen bei der Auflösung der Sowjetunion einfach passiert ist, aus Unaufmerksamkeit oder sonst was, und dass die russische Außenpolitik, nachdem sie sich von dem Schock erholt hat, seitdem alles tut, dieses Hoppala zu korrigieren.
Wladimir Putin, der Neue Zar in Moskau, kann gar nicht anders, als alles in seiner Macht stehende zu tun, diese Unabhängigkeit rückgängig zu machen.
Schon das Zarentum sah sich als Herrscher aller Russen, nicht umsonst nannte es sich Wse Rossijskaja Imperija, All-Russisches Imperium. Im Panslawismus erhob man sogar den Führungsanspruch auf alle slawischen Nationen. Die Sowjetunion übernahm diesen Anspruch nahtlos; Putin, der nicht umsonst den Zusammenbruch der UdSSR eine politische Katastrophe nennt, sieht sich als legitimer Erbe dieses Anspruchs. Ob bei seiner blöden Zollunion, oder was auch immer für ein Euphemismus für Russischen Imperialismus da verwendet wird, also ob bei der geplanten Zollunion Armenien dabei ist oder Kasachstan, kann ihm relativ egal sein, aber wenn die Ukraine nicht mitmacht, hat er seinen legitimen Anspruch als der Herrscher aller Russen verspielt.
Daher geht es jetzt in der Ukraine um die ganz fundamentale Frage: Ist dieser Jahrhunderte alte Herrschaftsanspruch, den Iwan der Schreckliche als Nachfolger der Kiever Rus erhob, der die Außenpolitik des Zarenreiches grundlegend prägte, und der nach dessen Zerfall nahtlos von der Sowjetunion übernommen wurde, und nach deren Zerfall von Wladimir Putin, hier und heute noch aufrecht zu halten, oder hat es Väterchen Wladimir tatsächlich vergeigt?
Unappetitliche Mitreisende
Bevor jetzt aber alle Europäer in euphorischen Jubel ausbrechen, weil in Kiew gerade die Guten siegen, sollten wir uns bewusst sein, dass da eine Reihe von eher unappetitlichen Mitreisenden mit im Zug sitzen, etwa die „Allukrainische Union – Svoboda“ (Freiheit), eine in der Rada vertretene offen rechtsnationale Partei, oder der so genannte „Rechte Sektor“, eine lose Vereinigung von Wehrsportgruppen und Fussball-Ultras. (Wobei man auch vorsichtig sein sollte, was da von der russischen Agitprop verbreitet wird und was tatsächlich stimmt.)
Natürlich hat es mir missfallen, dass der Nationalist und Sieger der orangen Revolution, Viktor Juschtschenko, 2005 am Grab von Symon Petljura am Pariser Friedhof Montparnasse Blumen niedergelegt hat, demonstrativ und in Begleitung seiner Frau und eines Rudels Photographen.
Natürlich hat es mir missfallen, dass Anhänger des Fußballklubs Karpaty Lwiw zur Fußball-Europameisterschaft ein Riesentransparent von Bandera in die Höhe hielten. (Bandera hat im westukrainischen Ternopil sogar ein eigenes Denkmal.)
Selbst Wilhelm Franz Habsburg-Lothringen, der ex-Thronprätendent, rückte in späteren Jahren immer deutlicher in die Nähe des Antisemitismus, bevor er im August 1947 am Wiener Südbahnhof von den Sowjets entführt und nach Kiew verschleppt wurde, wo er zwei Jahre später im Gulag starb. (Dafür wird heute auch Erzherzog Wilhelm Franz in der Ukraine als Held verehrt – nur wir Österreicher wissen halt nix mehr von der Weltgeschichte.)
Auch habe ich zur Kenntnis genommen, dass der russische Erbfeind Polen in der Ukraine derzeit laufend Sympatiepunkte sammelt. OK, erstens wollen die Ukrainer im Moment das Großrussische ja eher nicht, zweitens können sie im benachbarten Polen erste Reihe fußfrei zusehen, was es bringt, Mitglied der EU und des kapitalistischen Westens zu werden, und drittens hat Polens Außenminister Radek Sikorski in den letzten Wochen, zusammen mit Frank Walter Steinmeier, seinem deutschen Amtskollegen, einen wirklich erstklassigen Job gemacht. Dennoch: Nachdem sich Ruthenen und Polen sowie Litauer in den letzten vierhundert Jahren eigentlich nur in der Wolle gelegen sind, quer durch Galizien, die Bukowina und Wolhynien, ist es derzeit schon erstaunlich, was das „Friedensprojekt EU“ alles zuwege bringen kann. Das sollten wir, bei aller Kritik gegenüber Brüssel, nicht vergessen.
Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Noch kann Väterchen Putin ein Ass aus dem Ärmel ziehen, das wir uns nicht erwarten oder von dem wir noch nix nichts wissen. Und noch kann, was viel wahrscheinlicher ist, sich die Ukraine selbst ins Bein schießen und es irgendwie verschisteln, wie es ihr ja schon nach der orangen Revolution 2004 gelungen ist.
Wir leben in interessanten Zeiten.