Der allrussische Traum oder Was treibt Putin wirklich an?

Nachfolgend der Text eines Vortrags von mir am 16.4.22 auf der DiVOC22 „Bridging Bubbles“ des CCC Hamburg.

Es ist schon ungefähr dreißig Jahre her, da begab ich mich für eine Reportage in die russische Stadt Nischnij Nowgorod, auf der Suche nach der „Russischen Seele“, der duscha russkaja.

Mitgebracht habe ich von dort zwei Dinge: Eine Reihe von wunderschönen, aber unglaublich deprimierenden Schwarzweiß-Fotos zum postsowjetischem Verfall einer schönen, alten russischen Stadt. Und ein Interview mit einem jüdischen Philosophieprofessor, das in dem Satz gipfelte: „Wir haben euren Faschismus besiegt. Um den Preis, dass wir unseren am Leben gelassen haben.“

Einigen wir uns für diesen Vortrag darauf, Faschismus zu definieren als Ultranationalismus, gepaart mit Führerprinzip, Ablehnung demokratischer Prinzipien sowie dem Primat der Gruppe über das Individuum. Ich habe bewusst nicht „antikommunistisch“ hinzugefügt, weil das nur auf die faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts zuträfe. Und selbst da sind die Grenzen verschwommen: Marx war sicher kein Faschist, Lenin höchstwahrscheinlich nicht, Stalin hinwieder ganz sicher.

Jetzt machen wir erst einmal einen kurzen historischen Exkurs.

Nämlich weil das mit die Geschichte – also erstens ist es wie überall kompliziert, und zweitens haben wir das in der Schule ja nicht gelernt und daher hat kaum wer Ahnung davon. Wäre aber praktisch, denn es erklärt sehr viel von dem, was da gerade in der Ukraine abgeht.

Die Wikinger – ja, tatsächlich, die – sind als ebenso unternehmungslustig wie reisefreudig bekannt, und das nicht nur nach Westen, wo Eric der Rote bis nach Neufundland kam, sondern auch nach Osten. Dort fuhren sie auf Flüssen wie Dnjestr und Dnjepr mit ihren Drachenschiffen von Skandinavien bis an das Schwarze Meer und begründeten dabei eine Reihe von Städten als Handelsniederlassungen, respektive trieben mit den Städten, die sie schon vorfanden, Handel. Man nennt diese Wikinger auch Waräger, angeblich sind sie für die unpackbar blauen Augen sowie das leuchtende Strohblond der Ukrainerinnen verantwortlich, oder so ähnlich. So weit die Fakten.

Der Mythos erzählt von einem Stamm der Wikinger, der sich Rus nannte. Von denen gibt’s aber keine geschichtlichen Bezeugungen, also gibt es sie erst mal offiziell nicht. Was die Rus oder Waräger oder wen auch immer, nicht davon abhält, ab dem neunten Jahrhundert als Kiewer Rus aufzutreten, als Großreich der Slawen so in etwa dort, wo die heutige Ukraine ist.

Der Mythos erzählt von zehn weisen Männern, die in einem goldenen Boot den Dnjepr herunterkommen und in der Stadt Kiew an Land gehen, um dort auf den sieben Hügeln der Stadt das neue (orthodoxe a.k.a rechtgläubige) Rom zu gründen (bzw. wieder zu errichten).

Die Geschichte wieder weiß, dass der warägische Großfürst Wladimir I. Swjatoslawitsch 899 in Kiew zum byzantinisch-orthodoxen Christentum konvertierte, weshalb ihn die Russen den Heiligen nennen und in Kiew die Wiege ihrer Nation sehen.

Das ist ein wichtiger Punkt: Tatsächlich sind die Geschichte von Kiew und Moskau eng miteinander verbunden.

1240 fiel Kiew, die Goldene Pforte, im Zuge der mongolischen Invasion, das ist auch das Ende der Kiewer Rus. Erst dreihundert Jahre später eroberte Iwan IV, Großfürst von Moskau, die tartarischen Khanate Khasan und Astrachan und legte damit den Grundstein zu einem modernen russischen Großreich. Die Geschichte dankte es ihm, indem sie ihn den „Schrecklichen“ nannte, wobei die Übersetzung fehlerhaft ist, denn die Russen nennen ihn groznyj, was der „Drohende“, der „Strenge“, „der zu Respektierende“ bedeutet, wahrscheinlich ist das „schrecklich“ ein früher PR-Spin (katholischer) europäischer Fürstenhöfe, gegenüber dem neuen Mitspieler, der noch dazu die „falsche“ Religion hatte. However.

Jedenfalls versteht die russische Geschichtsschreibung Moskau seither als legitime Nachfolgerin der Kiever Rus, konsequenterweise nannten sich die Zaren seit Iwan „Herrscher aller Russen“ und meinten damit auch Kiew und Minsk, also die Ukraine und Weißrussland.

Und Kiew selber? Versank nach dem Tartarensturm in die Mittelmässigkeit und wurde erst eine Provinzstadt der litauischen Großfürsten und später eine ebensolche im Königreich Polen.

Die Polen waren katholisch, die lokalen Ruthenen orthodox, das klingt nach Ärger, und so war es auch. Wobei die anti-polnischen Bewegungen nichts von Unabhängigkeit redeten, sondern von der Vereinigung mit dem russischen Mutterland. Das gelang auch unter dem Hetmann der Kosaken Bogdan Chmelnitzkij, dieser besiegte in mehreren Schlachten diverse polnische Heere, meuchelte bei der Gelegenheit auch ein Fünftel der (damaligen) ukrainischen Juden, um schließlich 1654 den Zusammenschluss des Kosakenstaates mit dem russischen Zarenreich zu feiern.

Seither ist Kiew „wieder“ russisch, denn Chmelnitzkij verstand sich als Russe. Von „ukrainischem“ Nationalismus war da weit und breit noch nichts zu sehen und zu hören.

Martti J. Kari ist Finne und pensionierter Oberst des Geheimdienstes der finnischen Streitkräfte und lehrt an der Universität von Helsinki: „Ich habe mich mein ganzes Leben lang mit Russland und der russischen Sicht der Welt auseinandergesetzt“. Für ihn sind vor allem die dreihundert Jahre tartarischer Herrschaft ein Schlüssel. Ich kann leider kein Wort Finnisch, aber die Untertitel übersetzen es mit „a completly lawless period“,  eine völlig gesetzlose Zeit. Das bedeutet gleichzeitig: Der Stärkere gewinnt. Und dieses Prinzip habe sich, so Oberst Kari, im Denken und Handeln Russlands bis heute festgeschrieben.

Kurzer Exkurs zur Religion: Als sich das Christentum 1054 in eine West- und eine Ostkirche spaltete, ging es, neben Fragen des Ritus und der päpstlichen Machtbefugnisse, auch um etwas Grundsätzliches, nämlich ob man sich G*tt mit menschlichen Methoden (vor allem denen der Vernunft) nähern dürfe, oder ob G*tt ein Mysterium sei, dem eins sich widerspruchslos unterwerfen soll/muss. Die westliche Welt entwickelte konsequenterweise die Jesuiten und Jürgen Habermas, die Ostkirchen verharren bis heute in einem tiefen Mystizismus. Demzufolge ist rationell denken im Zweifelsfall sündhaft. Das zieht sich bis heute durch alle Gesellschaftsschichten, läppische siebzig Jahre sowjetischer Antiklerikalismus haben da wenig bewirkt. Und was den aufklärerischen Anspruch im Sozialismus betrifft: Der ging, samt Sozialismus, schon bei Stalin flöten.

Die Zaren verstanden sich als g*ttgesandt und daher als unfehlbar. In dem Augenblick, in dem der Zar gekrönt wird, bekommt er von G*tt die Gnade und die Erleuchtung, das Richtige zu tun. Und wenn er einen Fehler macht, dann ist es niemals des Zaren Schuld, sondern immer die seiner Untergebenen, der „Bojaren“, der Hofadel, der das Gros der Verwaltung stellte. Und G*tt ist selbstverständlich Russe, denn die orthodoxe Kirche ist eine Staatskirche und untrennbar mit der Macht verbunden. Dabei ist sie zutiefst konservativ, machtdevot und staatsgläubig – Autorität wird von G*tt verliehen, sie in Frage zu stellen ist eine Sünde.

Man kann es auch in historischen Dimensionen erklären: Die Aufklärung, von Locke, Hobbes, Hume, von Erasmus und Descartes und Montesquieu und wie sie alle heißen, all die Denker, aus deren Gedanken die Grundlagen unserer modernen Staatsideologie hervorgegangen sind, kommen in der russischen Geschichte nicht vor, weder im Original noch in der Übersetzung noch in einem lokalen Äquivalent oder sonst etwas. Bis tief ins 19. Jahrhundert hinein sind die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung Leibeigene, also de facto Sklaven, mit einer dünnen Oberschicht der Adeligen. Kurzum: Die europäische Aufklärung hat hier nie statt gefunden.

Und die Industrialisierung in Russland erfolgte in Wirklichkeit erst durch die Bolschewiki, wie im berühmten Satz von Lenin auf dem VIII. Gesamtrussischen Sowjetkongress am 22. Dezember 1920 festgehalten: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“.

Die Sowjetmacht und nach ihr auch Wladimir Putin haben, neben dem Anspruch als „allrussische“ Herrschaftsmacht, auch die imperialistischen Ansprüche des Zarentums übernommen, ebenso wie auch den Anspruch der Unfehlbarkeit („Die Partei hat immer Recht.“) Der Panslawismus, eine Idee vor allem aus dem 19. Jahrhundert aus der Hexenküche des Nationalismus, sieht die Slawen – also alle, Bulgaren, Serben, Slowaken – als ein einziges Volk, vereint im rechtmäßigen Glauben, und die Russen sind dazu ausersehen, sie zu schützen und zu verteidigen.

Und dabei ist, so der finnische Oberst Kari, am Ende jedes Mittel recht, selbstverständlich auch die rohe Gewalt, der Vertragsbruch, was immer der Glorie Russlands und dem Erhalt und der Fortführung derselben dient. So predigt das dann auch der Pope in der Kirche.

1917 ist große Zäsur in der russischen Geschichte: erst der Sturm auf dem Winterpalast und die bürgerliche Revolution, dann der bolschewistische Putsch und acht Jahre Bürgerkrieg. Um 1920 waren mehr als zwei Millionen Russen ins benachbarte Ausland geflohen, die meisten von ihnen Adelige oder Intellektuelle. Es ist die bis dahin größte Flüchtlingsbewegung Europas.

Einer von ihnen, Nikolaj Sergejewitsch Trubezkoj, war schon vor seiner Flucht angesehener Linguist in Moskau. Er schrieb 1920 im Exil: „Es gibt nur einen wahren Gegensatz: die Romanogermanen und die übrigen Völker der Welt, Europa und die Menschheit.“

Moment, ich erkläre das gleich.

1921 erschien dazu der erklärende Sammelband „Exodus nach Osten“ in einem russischen Exilverlag im bulgarischen Sofia. Der Band enthielt Aufsätze von Trubezkoj sowie des Theologen Georgi Florowski, des Geographen, Ökonomen und Philosophen Pjotr Sawizki sowie des Musikologen Pjotr Suwtschinski. Die Autoren entwickelten darin ein Konzept, dem sie die Bezeichnung Jewrasijstwo gaben, das lässt sich in etwa mit „Eurasismus“ oder „Eurasianimus“ übersetzen. Diese geopolitische Ideologie behauptet, dass ein von Russland dominierter, zwischen Europa und Asien befindlicher „Kontinent Eurasien“ in einem fundamentalen Gegensatz zur „romano-germanisch“ geprägten westlichen Welt stehe.

Dieser „Kontinent Eurasien“ deckt sich in ungefähr mit dem Territorium des zaristischen Großreiches. Westliche Kultur wird nicht per se abgelehnt, jedoch als für Russland ungeeignet erachtet, da ihr das spirituelle Element fehlt. Der Bolschewismus wird als „abscheulich“ zurückgewiesen; die Exzesse im russischen Bürgerkrieg hätten seine „geistige Armut“ (duchownoje uboschestwo) gezeigt, aber auch die „rettende Kraft der Religion“ hervortreten lassen.

Ziel der Eurasier ist die Vereinigung der großen christlichen Kirchen unter Führung der russisch-orthodoxen Kirche; der Katholizismus habe die Urgedanken des Christentums verfälscht. Auch die Juden seien einzubeziehen, die „orthodoxe jüdische Kirche“ bliebe aber in ihrem Kult eigenständig. Ein Zar solle „in christlicher Liebe“ diesen zu schaffenden „Staat der Weisheit“ regieren, in dem alle Nationalitäten gleichberechtigt seien. Auch die Ukraine habe ihren Platz in diesem eurasischen Reich zu finden; der Anspruch ukrainischer Nationalisten, zu Europa zu gehören, sei historisch unbegründet. Wichtigster Nachbar Eurasiens sei China. Die geeignete Wirtschaftsform sei eine weiterentwickelte Planwirtschaft.

Extempore: Ich habe ja schon vorhin auf den tiefen Mystizismus in der russischen Kultur hingewiesen, das möchte ich hier noch einmal explizit hervorheben. Mystik ist ein untrennbarer Bestandteil des russischen Wesens, deshalb konnten sich auch die feudalen Strukturen so gut erhalten, schließlich waren sie ja „g*ttgegeben“ und G*tt zweifelt man nicht an. Vielleicht sollte eins noch erwähnen, dass es schon in der griechischen Philosophie die Diskussion um den „gerechten Tyrannenmord“ gibt, auch im Römischen Recht ist dieses „Recht auf Widerstand“ festgeschrieben. In der Aufklärung wird dieses Recht vor allem beim englischen Philosoph John Locke festgeschrieben, („Das Volk soll Richter sein“), auf den sich die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung explizit beruft.

All das ist dem russischen Selbstverständnis fremd, um nicht zu sagen wesensfremd. Vielleicht mögen die Russen ja deshalb Kant, weil dieser das Recht auf Widerstand ablehnt. Egal, heute steht es in der deutschen Verfassung, für einen gläubigen orthodoxen Russen ist das hart an der G*tteslästerung.

Die meisten Eurasisten kamen im Gulag um, nur Trubezkoj starb 1938 in Wien.

Ab den fünfziger Jahren entwickelte der Geograph und Turkologe Lew Gumiljow die eurasistische Ideologie im Untergrund weiter. Durch die Aufnahme biologistischer Elemente entfernte sich Gumiljow aber von den klassischen Eurasiern. Seine Idee von einer Wiederherstellung eines Bündnisses zwischen Slawen und Steppenvölkern fand erst nach Perestroika und der Auflösung der UdSSR Verbreitung.

Warum erzähle ich das alles hier? Ganz einfach: Weil die Eurasisten heute keine fringe-Bewegung mehr sind, sondern im Zentrum der Macht sitzen, und zwar mit dieser Person: Alexander Dugin.

Dugin ist Mitglied des innersten Zirkels um Wladimir Putin und sein spiritueller Beichtvater. Seit den frühen Neunzigern vertritt er eine Art Neu-Eurasianismus. Im Gegensatz zur zentralen These des klassischen Eurasismus, dass es einen dritten Kontinent „Eurasien“ zwischen Europa und Asien gebe, versteht Dugin „Eurasien“ als Europa und Asien. In Anlehnung an Thiriarts Idee von einer Pax Eurasiatica plädiert Dugin für ein eurasisches Imperium von Dublin bis Wladiwostok unter der Führung Russlands, weil, so Dugin, „die wahren, geopolitisch gerechtfertigten Grenzen Russlands bei Cadiz und Dublin liegen und Europa dazu bestimmt ist (…) der Sowjetunion beizutreten“. Alle Eurasier, auch Dugin, haben die bipolare Weltsicht gemeinsam, dass „Eurasien“ einem Hauptfeind gegenüberstünde. Der Unterschied ist, dass klassische Eurasier das „romanogermanische Europa“ als Gegner ansahen, wohingegen Neo-Eurasier sich einen Kampf vorstellen zwischen hierarchisch organisierten „eurasischen“ Landmächten unter der Führung Russlands und liberalen „atlantischen“ Seemächten unter der Führung der USA. Europa wird laut Dugin von den USA okkupiert und Russland müsse die Rolle des Befreiers annehmen. Der Erfolg „Eurasiens“ hänge von der Wiedergeburt des imperienbildenden russischen Volkes ab. In Dugins apokalyptischer Weltsicht steuere diese jahrhundertealte Gegnerschaft zwischen Land- und Seemächten auf einen „Endkampf“ zu. (Ragnarök?)

Dugin beruft sich dabei nicht nur auf die traditionelle eurasistische Bewegung, sondern auch auf Vertreter der westeuropäischen Neuen Rechten wie Jean-François Thiriart und Alain de Benoist, die Traditionalisten René Guénon und Julius Evola, Vertreter der Konservativen Revolution wie Carl Schmitt und Geopolitiker wie Karl Haushofer.

Ich lasse das jetzt einmal alles so stehen.

Was ist, wenn alles genau nach Plan verläuft?

Bis jetzt scheinen die Ukrainer unglaublich viel Glück gehabt zu haben, neben großer Tapferkeit und guter Planung. Vor allem die offenbar angestrebte Einkesselung Kiews scheint völlig zum Erliegen gekommen zu sein. Kriegsglück? Oder war es Zufall? Was ist, wenn es genau nach Plan verliefe, nur eben nicht Putins? Eine These.

Könnt ihr euch noch an Tag zwei der russischen Invasion in der Ukraine erinnern? OK, es ist fast schon einen Monat her, aber ganz am Anfang des Krieges bildete sich dieser mysteriöse Konvoi von rund 65 km Länge in Nord-Südrichtung zwischen der bielorussisch-ukrainischen Grenze und der Hauptstadt Kiew. Es dauerte mehrere Tage, bis er auf seine gesamte Länge anwuchs, und er stand ziemlich unübersehbar mitten auf der Landstrasse.

Ein offensichtliches Ziel für einen Angriff der Ukrainer, der aber nie kam. War das ein taktischer Fehler? Meiner Meinung nach ja, aber der von Putin. Von der ukrainischen Seite her war es ein strategisch genialer Zug.

Moment: Ich argumentiere das gleich.

Der Angriff auf Kiew am 24. Februar erfolgte nach einem Plan wie bei einer Schularbeit auf der Militärakademie. Sieben Divisionen mit jeweils zehntausend Mann griffen gleichzeitig auf breiter Front an. Geplant war, per Luftlandetruppen den Flughafen eines Ortes namens Hostomel einzunehmen, das ist ein nördlicher Vorort von Kiew, ungefähr so wie Klosterneuburg zu Wien, nachdem dort die Antonow-Werke sind, gibt’s da einen tip-top ausgebauten Militärflugplatz.

Es begann damit, dass die Ukrainer die Einnahme durch Luftlandetruppen vereitelten, verlustreich, aber sie haben es geschafft, Hostomel ist noch immer unter ukrainischer Kontrolle. Anschließend, ungefähr eine Stunde Fahrzeit von Hostomel entfernt, geriet der Konvoi ins Stocken und fuhr sich fest.

Dieser Konvoi war der Nachschub für die rund siebzigtausend Soldaten mit ihren gepanzerten Manschaftswagen und den fetten T80 Tanks. Russische Technik ist bekannt für ihre Robustheit, aber nicht für Sparsamkeit beim Sprit. Ein T80 verfährt an einem Tag locker rund 2.500 Liter Diesel, soviel passen denn auch in seinen Tank. In einen BMP3 Manschaftswagen gehen 700 Liter hinein, die reichen auch nicht viel länger. Alles in allen waren da ca 7.000 Fahrzeuge unterwegs, und zwölf Kilometer vor Hostomel, bei einem Ort namens Irpin, ging ihnen der Sprit aus, im wortwörtlichen Sinn.

Wohlgemerkt: Das war die Speerspitze des Angriffs. Der Konvoi war der Nachschub.

Aleine an Sprit braucht der ganze Setup – alle sieben Divisionen – vier bis sechs Millionen Liter Diesel pro Tag, schätzen wir einmal konservativ, das entspricht einem Zug mit 70 Tankwaggons, oder eben einem langen Konvoi an Tank-Lkw. Dazu noch Munition, und nicht zuletzt Verpflegung für die Truppe.

Hier ist den Russen, entweder Putin oder eher einem der jetzt unter Hausarrest gestellten Generäle, meiner Meinung nach ein schwerer taktischer Fehler unterlaufen, indem alle Nachschubeier in einen Korb gelegt wurden, sozusagen. Verständlich, wenn eins bedenkt, wie der Rest des Plans aussah: Die Bevölkerung würde zusehen, fallweise freundlich jubeln respektive sich befreit fühlen und die Armee kaum bis keinen Widerstand leisten, der Flughafen Hogomel wird die Basis, von dort wird die Umzingelung der Stadt Kiew eingeleitet, alles aus dem Lehrbuch. Wie in einem Manöver. Und da braucht man jetzt nicht mehrere Nachschubwege einrichten, da ist schon einer organisatorisch schwierig, und überhaupt. Anschließend fangen wir die Regierung ein und setzen eine neue, uns freundlich gesinnte ein, und in drei Wochen sind wir wieder zuhause. Zumindest in diesem Stil scheint das alles geplant gewesen zu sein.

Und jetzt kommt der geniale Zug: Die Ukrainer griffen den Konvoi nicht an. Sie verhinderten lediglich, dass er tatsächlich ankam aka dass der Nachschub durchkam. Wobei es die Russen wirklich probiert haben, mindestens sechs Tage lang. Sie brachten sogar eine fahrbare Pontonbrücke mit. To no avail, wie der Franzose sagt: Es war alles umsonst. Und bis heute, drei Wochen nach Kriegsbeginn, ist die Einkesselung nicht gelungen. Passend dazu hier der Twitterfaden meines journalistischen Kollegen Tomi Ahonen, der das alles akribisch rechechiert hat. Und hier eine Reportage von den Kollegen des Wall Street Journal mit den Special Forces der Ukraine im Norden der Hauptstadt.

Ihr kennt sicher den Witz: Vater und Sohn Stier kommen über den Hügel und sehen eine Herde friedlich grasender Kühe. „Papi, Papi, komm lass‘ uns schnell hinunterlaufen und eine Kuh bumsen!“ „Nein, mein Sohn. Lass uns ganz langsam hinuntergehen und eine nach der anderen bumsen.“ Genau so gingen die Ukrainer vor, nämlich langsam, aber zielgerichtet.

Während einer ganzen Woche ließen die Ukrainer den Konvoi ein wenig vorrücken, aber nie ans Ziel kommen, was bedeutet, der in diesem Konvoi gebundene Nachschub hat die russische Truppe nie erreicht. Ich lehne mich jetzt ein wenig aus dem Fenster und behaupte: Das war Absicht. Hätten die Ukrainer den Konvoi am ersten Tag angegriffen, hätten die Russen zwar den Konvoi verloren und damit den Nachschub, aber wären anschließend sofort dazu über gegangen, einen neuen zu organisieren, diesmal möglicherweise nicht alles auf einmal, und die Panzerspitzen hätten noch rechtzeitig mit Treibstoff und Munition versorgt werden können. So aber war der russische Generalstab offenbar der Meinung, der Nachschub wäre ja ,,eh schon fast da“ und wozu einen neuen organisieren. Erst nach drei Tagen begann die russische Seite, neue Lkw zu organisieren. Die dazu notwendigen rund 200 Lkw mussten aus verschiedenen Armeebasen zusammengeholt werden und anschließend in den Süden von Weissrußland fahren, das dauert noch einmal zwei Tage. Und beim erstklassigen Servicezustand russischer Armeehardware kam ein erklecklicher Teil der Lkw erst einmal gar nicht an, sondern blieb auf der Fahrt irgendwo liegen.

Die angreifenden Divisionen mussten in der Zwischenzeit einerseits Sprit sparen und hatten andrerseits wenig Munition und konnten daher weder agil kämpfen noch die Einkesselung von Kiew vervollständigen. Zwar flogen Hubschrauber die dringendsten Dinge ein, aber es reichte nicht für eine Offensive.

Der ursprüngliche Plan hätte einen permanenten Shuttle mit schweren Lkw zwischen der bielorussischen Basen und der neu zu errichtenden Basis auf dem Flughafen der Antonov-Fabrik vorgesehen. Mangels dieser Basis brach der Angriff auf die Hauptstadt mehr oder weniger zusammen.

In der Zwischenzeit taten die Ukraïner das, was sie offenbar am besten können: Sie führten einen Abnützungskrieg, und das relativ erfolgreich. Die russischen Truppen, fast durchwegs blutjunge Rekruten, begannen, ohne Treibstoff und Munition, ihre Panzer und Kampfwagen einfach stehen zu lassen und liefen davon. Auch waren die Ukrainer sehr erfolgreich im Umgang mit von der Schulter abzuschießenden, also tragbaren, Waffen sowohl gegen Fahrzeuge als auch gegen Helikopter. Per heute, also knapp drei Wochen nach dem Einmarsch, meldet die Ukraine: ,,Seit Kriegsbeginn … betragen die gesamten Kampfverluste der russischen Invasoren 14.200 Mann, 450 Panzer und 93 Flugzeuge.“ Daneben verloren die russischen Kräfte – so die Ukraine – 1.448 gepanzerte Kampffahrzeuge, 205 Artilleriesysteme sowie 72 MLRS (Multiple Launch Rocket System aka Stalinorgeln), heißt es weiter. Und: ,,Darüber hinaus zerstörten die (ukrainischen) Streitkräfte 43 feindliche Luftverteidigungen, 93 Flugzeuge, 112 Hubschrauber, 879 Fahrzeugeinheiten, 3 Schiffe / Boote, 60 Treibstofftanks, 12 UAV (Drohnen) auf operativer und taktischer Ebene sowie 11 Einheiten mit Spezialausrüstung.“ Nachzulesen hier. OK, was davon tatsächlich wahr ist, lässt sich jetzt nicht wirklich nachprüfen. Aber aus verschiedenen Quellen (Geheimdienste der USA und der Briten) hört man ähnliche Dimensionen, so in der Richtung könnte es schon stimmen.

Das muss man sich mal geben: 14k Tote alleine auf russischer Seite. Wenn das stimmt, hat Putin in drei Wochen in der Ukraine fast so viele Soldaten verloren wie die UdSSR in acht Jahren Afghanistan (dort waren es rund 17k). Das kann auch er nicht lange durchhalten.

Bislang jedenfalls haben die Russen – bis auf einmal, nach der ersten Woche – keine Verlustzahlen bekannt gegeben.

Auf Oryx, einem aus den Niederlanden betriebenen Website, kann eins es auch auf Englisch nachlesen, so eins des Kiryllischen nicht mächtig ist. So erfahren wir dann, dass rund die Hälfte der Fahrzeuge erbeutet respektive verlassen vorgefunden wurde, das sind die berühmten ukrainischen Bauern, die mit ihren Traktoren gefilmt wurden, als sie aufgegegebene T72 einfach wegschleppten.

Die Taktik der Russen ist immer gleich: Eine Stadt einkesseln, sich erst gar nicht auf einen Häuserkampf einlassen, sondern sie mit Raketen und Artilleriebeschuss sturmreif schießen, bis sie aufgibt oder einfach zu existieren aufhört. So war es in Grosny, der tschetschenischen Haupstadt, so war es im syrischen Aleppo (ich könnte heute noch heulen, das war so eine schöne Stadt. Und 4000 Jahre alt. Diese Barbaren), und genau so machen sie es derzeit mit Mariopol. Und so wollten sie es auch in Kiew machen. Und deshalb schießen sie jetzt in Kiew, und im Südosten, wo sie sich auch festgefahren haben, alles kurz und klein, möglicherweise im Versuch, das Kriegsglück doch noch zu erzwingen.

Ich lehne mich jetzt weiter aus dem Fenster und behaupte: Das war auf der ukrainischen Seite von Anfang an der Plan.

Ich weiß, muss nicht sein, Kriegsglück, Zufall, blah blubb. Aber ich glaube nicht an Zufälle, vor allem nicht an so viele auf einmal. Die ukrainische Armee hat in den sechs Jahren seit dem Donbas deutlich dazu gelernt, sie wurde von britischen und US-Spezialeinheiten trainiert, sie werden mit Aufklärung und infosec von den USA und der Nato unterstützt, aber am Ende des Tages sind sie, zumindest auf dem Papier, den russischen Invasoren hoffnungslos unterlegen. Das muss auch, von Anfang an, Zelenski und seinem Generalstab bewusst gewesen sein. Auf der anderen Seite haben die Mehrheit von ihnen selbst in der russischen Armee (oder halt in der Roten Armee der UdSSR) gedient, sie kennen ihre Gegner gut, und sie kennen deren Schwächen. Ich halte es für durchaus realistisch, dass das von seiten der Ukraine von Anfang an als einzig mögliche Verteidigungsstrategie geplant war, und sie scheint glorios aufgegangen zu sein. Die Schlacht um Kiew hat Putin verloren und Zelenski gewonnen. Eine taktische Meisterleistung, Chapeau.

Und wenn sie das geplant hatten, dann haben sie auch für den Rest noch einen Masterplan. Ich lehne mich jetzt ganz weit aus dem Fenster und sage: sie werden diesen Krieg gewinnen. Es wird sie unsäglich viele Leben kosten, vor allem zivile, denn die Russen werden noch ein Massaker anrichten, aber die Ukrainer werden gewinnen. Denn Putin wird nicht nachgeben, er wird das durchstehen. Bis zum bitteren Ende.

Keine Ahnung, wie das aussehen wird. Wenn ich mir jetzt schon den Mund verbrenne, dann behaupte ich, Putin wird verlieren, sich zurückziehen und deutlich geschwächt sein auch in seiner Position nach innen. Und länger als zwei, drei Jahre wird er sich nicht halten können.

Wie das alles geschehen wird? Keine Ahnung. Wird er Atomwaffen einsetzen? Meine Kristallkugel ist gerade in der Reinigung. Wird es einen Weltkrieg geben? Wahrscheinlich nicht. But who knows.

Jetzt ist euch schlecht? Mir ist schon lange schlecht. 105 Kinder sind bis jetzt im Bombenhagel gestorben. Hundertfünf. Kleinkinder. Babies. Kinder. Djeca. дітей. Hundertfünf Söhne und Töchter. Ich geh‘ jetzt in meinen Polster schreien …

Wir leben in interessanten Zeiten.

слава україні

Putins Potemkin

Ich hab es nicht so gerne, wenn ich mit meinen Dystopien so weitreichend Recht bekomme. Und was den Ukraine-Konflikt betrifft: Ab jetzt lohnt es sich, in Tagesabständen zu posten. Zum Beispiel jetzt.

Es tut mir leid, aber ich muss schon wieder posten. Denn es ist heute der siebente Tag der russischen Invasion in der Ukraine, und es läuft überhaupt nicht so, wie sich der kleine Wladi im Moskauer Kreml vorgestellt hat.

Denn je länger diese Invasion dauert, desto mehr bekomme ich den Eindruck, dass diese mächtige russische Armee eigentlich überhaupt nicht existiert. Sie ist eine Art potemkin’sche Armee, sie hat zwar Panzer und Lkw und schweres Gerät, aber sie tut nicht so, wie klein Wladi will.

Von allen Seiten kommen die Berichte, und es können nicht alle nur ukrainische Agitprop sein. Ich hab ja insgesamt mehrere Jahre in Russland gearbeitet, teils noch in der UdSSR, teilweise schon nach der Revolution, und ich kenne russischen Schlendrian und Make-do. Und es hat schon seine Gründe, warum man bei uns (vor allem in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone) etwas, das wirklich nur so irgendwie hingepfuscht wurde, als ,,russisch“ bezeichnet. Und die jüngsten Berichte aus der Ukraine passen da tadellos dazu.

Da gibt es den Thread auf Twitter von einem ehemaligen US-Soldaten, dessen Job es 20 Jahre lang war, sich um die Reifen von schwerem Offroad-Equipment zu kümmern. Quintessenz: Derartiges Gerät muss mindestens einmal pro Monat bewegt werden, sonst werden die Seitenwände der Monsterreifen mürbe. Und sie sollten auch nicht allzu viel in der Sonne stehen, weil UV-Licht macht die Mischung ebenfalls mürbe. Und nach den Bildern aus der Ukraine, auf denen man genau erkennt, dass es den russischen Radwaffensystemen im Gatsch der Ukrainischen Felder einfach die Reifen von den Felgen zieht (https://twitter.com/TrentTelenko/status/1499164245250002944), könne man eindeutig sagen, so besagter US-Soldat: Diese Lkw wurden mindestens ein Jahr lang überhaupt nicht gewartet.

Und ein weiteres Posting spricht davon, dass besagter Reifen ein billiger chinesischer Nachbau sei, mit dem man allenfalls auf der Strasse fahren könne, aber nicht im Gelände.

Rasputitsa heisst die Zeit, in der der Boden auftaut. Es ist zwar erst März, aber der Klimawandel lässt grüßen. Erst taut natürlich die Oberfläche, während der Untergrund noch gefroren ist. Resultat: Das Wasser kann nicht ablaufen und es entsteht ein Meer an Schlamm, in dem schon ganze Armeen, von Napoleons Garde bis zu Hitlers Wehrmacht, versunken sind. Und jetzt halt Putins Armee. Es gibt auch Bilder von schweren Panzern in tiefem Gatsch, aufgegeben, wobei nicht ersichtlich ist, ob der Sprit ausging oder der Kettenantrieb nicht mehr gegriffen hat.

Als Treppenwitz der Weltgeschichte darf gelten: Genau das ist der Roten Armee auch passiert, im finnischen Winterkrieg 39/40. Dort konnten die schweren Fahrzeuge der Sowjets auch nur auf den (wenigen) Strassen bewegt werden, während die finnischen Soldaten auf Langlaufski von überall her angreifen konnten. Eins hätte geglaubt, dass Onkel Wladimir, der ja dauernd die Geschichte zitiert, aus ihr auch gelernt hätte. Aber Pustekuchen.

Die gesamte russische Armee greift also die Ukraine in der Breite von drei Kamaz-Lkw an. Mehr gehen nebeneinander nicht auf eine asphaltierte Strasse, und im Gelände … leider sind uns die passenden Reifen abhanden gekommen, Genosse, ja ich weiss auch nicht wie, ja es ist eine Schande, dass auch in Russland alles gestohlen wird, was nicht bei drei auf den Bäumen …

Es gibt noch andere Berichte, nach denen es in Wirklichkeit keinerlei übergeordnete Koordination des Einmarsches gibt. So hätten etwa bei den Panzerverbänden nur die jeweiligen Kommandanten eine Funkverbindung zum Gefechtsstand, und die reisse oft ab, weil die Entfernungen so groß sind. Auch würden die Panzerkolonnen ohne begleitende Infanterie vorstoßen, so dass einzelne Panzer plötzlich auf der ukrainischen Tiefeben zu leichten Zielen würden. Das ganze habe, so eine Beurteilung durch den britischen Geheimdienst, den Organisationsgrad eines schlechten Manövers und sei von einem tatsächlichen Krieg in etwa so weit entfernt wie eben Kiew von Moskau.

Anderen Berichten zufolge haben die russischen Verbände zu wenig Proviant bzw. seien die Proviantpakete, mit denen die Russen ausgestattet wurden, vor fünf Jahren abgelaufen. (https://t.me/voynareal/11169) Es habe schon erste Plünderungen gegeben, hauptsächlich für Essen. Und das erste, was gefangene russische Rekruten bekommen, ist ein heißer Tee und etwas zu essen. Und dann lässt man sie ihre Verwandten anrufen. Nicht gut für die russische Propaganda.

Es wäre eine logische Erklärung dafür, warum die Russen nicht weiter vorstoßen bzw. ,,den Sack um Kiew zumachen“, wie uns die p.t. Strategen allabendlich im Fernsehen erklären: Sie haben keinen Sprit. Der 60-km-Kolonne an schwerem Kriegsgerät vor Kiew ist schlicht und ergreifend der Diesel ausgegangen … ganz kann ich das ja noch immer nicht glauben. Aber ukrainische Freunde versichern mir, es sei noch viel absurder, als es klinge.

(Ganz abgesehen davon, dass das russische Gerät ja nicht offroad kann. Also wird am Anfang sowie am Ende des 60-km-Konvois ein bissi was putt gemacht, und feddich. Ende Gelände. Der Konvoi ist neutralisiert, wie ein Stau auf der Tauernautobahn im Juli. )

Ukrainische Freunde erzählen mir ebenfalls, den Russen ginge auch die Munition aus. Also sind sie frustriert, auch weil ihnen bewusst wird, das das noch alles sehr unangenehm werden könne, also ballern sie wie die Blöden auf alles, was sie erreichen können, und nehmen dabei weniger und weniger Rücksicht auf Zivilisten und Kindergärten und so lästiges Zeux. Auch der ORF-Korrespondent Wehrschütz erwähnte am Mittwoch, die Zerstörungswut der russischen Truppen auch von zivilen Objekten nehme deutlich zu.

Dabei sind die ganz schweren Hämmer in Russland ja noch gar nicht gefallen. So fliegen so gut wie alle Fluggsellschaften in Russland westliche Maschinen, von Boeing über Airbus bis Embraer. Und mit den Sanktionen kommen auch keine Ersatzteile mehr. Die meisten Airlines haben so für einen Monat Teile. Aber längst sind die komplexen Handbücher für’s Service online, und die sind schon jetzt nicht mehr erreichbar. Auch die Motoren der Maschinen, von RR bis GE und Pratt&Whitney, sind in Echtzeit mit ihren Lieferanten im Westen verbunden. Wahrscheinlich können die Russen ihre Westmaschinen schon jetzt nur mehr per Hack starten … und auch die alten Tupolews und Iljuschins sind schon verschrottet oder hergeschenkt und vor allem auch hier gibt’s keine Teile mehr. Weil – hehe – die Mehrheit der sowjetischen Flugzeugindustrie in – erraten – der östlichen Ukraine war.

In einem Land so groß wie Russland nicht mehr fliegen zu können, ist eine absolute Katastrophe. Und im europäischen Teil kann eins ja zur Not auch noch per Zug fahren (obwohl russische Züge kein Vergnügen sind. BTDT). Aber jenseits des Ural ist da schlagartig aus, Städte wie Perm oder Novosibirsk sind ohne Flugzeug praktisch nicht erreichbar. (Ja, im Winter, per Lkw, wenn der Boden gefroren ist. You gotta be kiddin …)

Jedenfalls hatte die Aeroflot am Donnerstag (laut flightaware.com) zwei Flüge draussen: Einen auf den Malediven, einen auf den Seychellen. Das wird auf die Dauer nicht reichen.

Apple und Microsoft haben ihre Dienste eingestellt, aber auch SAP und HP und Oracle. Mercedes, Volkswagen, Ikea … you name it, alle haben Lieferstop. Wenn dem russischen Mittelstand, so klein er ja auch sein mag, auffällt, wohin ihn Väterchen Wladimir da führt, wird er aber nicht zufrieden sein.

Wenn die Ukrainer noch ein bisserl aushalten, so lange, bis den Russen tatsächlich die ganze Luft ausgeht … wobei: Keine Ahnung, was ER macht, wenn’s wirklich eng wird.

Mit wird schlecht.

Nur meinen ukrainischen Freunden scheint es gut zu gehen. Sie sind gefasst und siegesbewusst. Und ich bin langsam geneigt, es tatsächlich zu glauben: Putin wird diesen Krieg verlieren.

Das wird alles noch sehr schrecklich werden. Aber, kleiner Trost zum Schluss: Den Winterkrieg haben die Finnen auch gewonnen. Sie haben einen hohen Blutzoll bezahlt, aber sie haben gewonnen.

Slawa Ukraini

Putin hat sich verkalkuliert.

Der Machthaber im Moskauer Kreml hat sich bei der Invasion der Ukraine offenbar gründlich verkalkuliert. Ob das jetzt besser oder schlechter für Europa ist, wird sich noch herausstellen. Ein Faktencheck.

Jetzt ist es Samstag nachmittag am 26. Februar 2022, zwei Tage nachdem der russische Präsident Wladimir Putin den Befehl zum Einmarsch auf ukrainisches Staatsgebiet gegeben hat (an meinem 70. Geburtstag. Kein schönes Geschenk.) Und so wie es aussieht, läuft es nicht so rund in der Ukraine, zumindest nach den Vorstellungen des russischen Machthabers.

Ja, ich weiß, die sozialen Medien sind jetzt voll mit Russlandspezialisten und Putinerklärern, nachdem die Fachleute für Immunologie und Seuchenbekämpfung aus der Mode gekommen sind. Ich will es dennoch versuchen, schließlich habe ich auf diesem Blog hier und hier schon vor acht Jahren über den Ukrainekonflikt geschrieben.

Putins Weltbild wurde vor 1992 geprägt, da war die Sowjetunion zwar schon teilweise disfunktional, aber sie bestand, und die Ukraine war ein fixer Bestandteil von ihr. Zu der Zeit war ich zweimal in Kiev, da sprach man dort mehrheitlich Russisch, und im Donbas sowieso, Ukranisch, also das altösterreichische Ruthenisch, sprachen allenfalls die Bauern in den Karpaten oberhalb Lembergs, draussen im Westen. Und von einem ukrainischen Nationalismus oder einem Nationalbewußtsein oder irgendetwas dieser Art war weit und breit nichts zu sehen oder hören. So disfunktional war die UdSSR schon geworden, dass wir uns relativ frei bewegen konnten, es wäre uns aufgefallen.

Dass Putin die Ukraine zurück haben will, war eigentlich immer klar. In seinem letzten TV-Auftritt hat er das auch argumentiert. Was Stalin nach dem Weltkrieg so westlich angeflanscht hatte, die Ostkarpaten und Lemberg und so, das gehört sowieso nicht dazu. Also stellt er sich eine geteilte Ukraine vor, mit Lemberg im Westen, als Satellitenstaat, und der Rest gehört zu Russland. Darauf plant er seit Jahren hin, das kann er jetzt endlich durchführen, darum macht er es. Jetzt.

Beharrlich hat Russland seine Armee wieder aufgerüstet und hat auch Erfolge gehabt: In Georgien, in Syrien, in Tschetschenien. Auch die Besetzung der Krim 2014 ging reibungslos und ohne einen Schuss, wahrscheinlich dachte Putin, das könnte vielleicht jetzt auch so gehen.

Offenbar hat er dabei übersehen, dass seit 1992 sehr viel Wasser auch den Dnjepr hintergeflossen ist, die Ukrainer von heute sind nicht mehr die von 1992. Damals waren es Sowjetbürger, man war vereint in seinem Elend und in seiner Sehnsucht nach mehr Berioska und westlichem Luxus, und ob man Russe oder Ukrainer war, war völlig schnurz. Und wer regierte, ebenfalls, am Ende war es immer die Partei.

So dämlich das aus heutiger Sicht auch klingen mag, damals war man im Osten ja überzeugt, für Freiheit und Sozialismus zu sein, man war auf dem richtigen Weg, holprig zwar, aber die Ideologie vereinte die Sowjetbürger, sie gab ihnen etwas, an das sie glauben konnten. Putin und seine Clique haben keine Ideologie, es geht ausschließlich um Macht, Korruption und Ausbeutung. Und dafür werden sich die Ukrainer nicht begeistern lassen, schließlich haben sie seit Maidan 2014 tatsächlich so etwas wie eine Demokratie, mit einer lebhaften Presse und einem offenen gesellschaftlichen Diskurs.

Geplant war offenbar, in einer Kommandoaktion Kiev zu besetzen, die demokratisch gewählte Regierung gefangen zu nehmen oder zu töten und eine Marionettenregierung einzusetzen, egal, irgendwer findet sich da immer. Möglicherweise haben die Russen erwartet, sie würden einfach die Stadt übernehmen, so wie die Taliban Kabul, weil bürgerliches Bewusstsein und Willen zum Widerstand kennt Putin offenbar nicht.

Der Plan ging bisher nicht auf, weder ist Kiev gefallen, noch ist die Regierung geflohen, im Gegenteil, Präsident Selenski posiert wehrhaft im TV und ruft zum Widerstand auf und wird über Nacht zum Nationalhelden, flankiert vom Boxweltmeister und nunmehrigem Kiever Bürgermeister Witali Klitschko. Und die ukrainische Armee von 2022 ist nicht mehr die von 2014, die ein paar Aufständische, mit Hilfe kleiner grüner russischer Männchen, vor sich her treiben konnten. Sicher, am Ende sind die Russen noch immer haushoch überlegen, auf dem Papier zumindest, aber in Zeiten der assymetrischen Kriegsführung zählt das alles nicht. Und auf einen langwierigen Häuserkampf ist die russische Armee nicht trainiert. Dazu besteht sie zu großen Teilen aus konskribierten Rekruten, unterbezahlt, unmotiviert und undiszipliniert. Die ersten Plünderungen durch russische Soldaten soll es schon gegeben haben.

Bedeutet: Wenn das nicht schnell vorbei ist und die Russen die Oberhand gewinnen, wird’s komplex. Dann leiden die Russen, die ja wirklich nicht die Weltmeister in Logistik und Organisation sind, nicht nur an schweren Nachschubproblemen, sondern der Kreml muss den eigenen Leuten auch die Toten erklären, die dann unvermeidlich sind, wenn die Ukrainer sich weiterhin so wehren, wie sie es bisher tun. Weil innenpolitisch wird das ja als Polizeiaktion verkauft, man ,,entnazifiziert“ jetzt endlich mal den Nachbarn, und das Brudervolk wird jubeln. Dass das Brudervolk zurückschießt, stand nicht im Drehbuch.

Die ersten Interviews mit gefangenen russischen Soldaten zeigen ahnungslose Rekruten, die nicht wissen, auf wen sie schießen sollen und vor allem warum. Vielleicht ist es ja auch eine Propagandafinte, damit sie der ukrainische Volkszorn nicht zerreisst; dass die Ukainer ihre Gefangenen ordentlich behandeln, kommt im russischen Erwartungskataster auch nicht vor. Oder so. Rührend auch Szenen, wo alte Frauen auf russisch die Soldaten beschimpfen. Oder die Panzerbrigade, der der Sprit ausgegangen ist, von Zivilisten auf dem Handy gefilmt ,,Wir können euch nach Russland zurückschleppen, wenn ihr wollt“, wer weiß, was davon Agitprop ist und was echt.

Echt ist aber offenbar, dass der rasche ,,Enthauptungsschlag“ aka die Einnahme der Hauptstadt Kiew nicht so funktioniert hat wie geplant respektive bis jetzt überhaupt nicht funktioniert hat. Die Soldaten der ukrainischen Armee sind hoch motiviert und kämpfen um ihre Heimat, das zeigt Wirkung. Jetzt, am Sonntag vormittag, melden die Agenturen: Kiew noch immer nicht gefallen, Charkiv im Norden wieder freigekämpft.

Das muss sich eins auf der Zunge zergehen lassen: Die Russen hatten die Stadt schon eingenommen. Und die Ukrainer haben sie wieder hinausgeworfen. Chapeau.

Putin ist auch bekanntermassen nicht so ein IT-Freak aka er ist der Sache gegenüber ziemlich mißtrauisch. Offenbar zu Recht, weil er hat offensichtlich das Internet nicht verstanden. Seine Kontrolle über die Medien umfasst nur so Dinge wie Fernsehen oder Printprodukt. Ja, die russische bot-Armee müllt uns imWesten die Foren zu, aber daheim kann die russische Zensur nicht verhindern, dass junge Russinnen und Russen ausländische Nachrichtenkanäle via Netz konsumieren. Konsequenterweise haben die Ukrainer eine Seite aufgemacht, auf der sie Namen und Bilder gefangener sowie gefallener russischer Soldaten veröffentlichen. Als Service an die Verwandten, sozusagen. Netter Nebeneffekt: Es demoralisiert die Truppe.

Scherz beseite: Klar ist das ein Propagandacoup. Aber es passt auch schön, sagen zu können, seht her, hier sterben eure Söhne, und ER sagt es euch nicht. Mal schauen, was das in den kommenden Tagen bringt. Angeblich hat die russische Armee fahrbare Krematorien mit dabei, damit nicht so viele Body Bags in die Heimat zurückgebracht werden müssen.

Die russischen Zensurbehörden haben am Samstag russischen Medien die Benutzung der Worte Нападение (Offensive), Вторжение (Invasion) und Война (Krieg) explizit verboten. Dennoch setzt sich auch bei den Mütterchen in Russland langsam die Ansicht durch, dass dies keine kurzfristige Befreiungsaktion ist, sondern ein richtiger Krieg, mit toten Söhnen und Brüdern und Bildern von bombardierten Kindergärten und so.

Hut ab übrigens vor dem Mut, offen innerhalb Russlands gegen den Krieg aufzutreten. Meine uneingeschränkte Hochachtung.

Mal schaun, wie das weitergeht. Wenn Putins befreundete Oligarchen nicht mehr zu ihren Superyachten fliegen können und ihre Frauen keine Gucci-Klunker mehr bekommen. Und, wie gesagt, wenn der russischen Öffentlichkeit bewußt wird, dass das keine Polizeiaktion ist, sondern ein blutiger Invasionskrieg. Der, im übrigen, nicht so einfach zu gewinnen sein wird, wenn überhaupt. Warten wir doch, bis am Montag die Moskauer Börse ins Bodenlose fällt. Und dass Putin draufkommt, dass seine 850 Mrd. Dollar Devisenreserven praktisch wertlos sind, weil wenn er nicht mehr in SWIFT drin ist, wo – und vor allem technisch wie – will er sie denn ausgeben? Er kann Gold verkaufen (lassen), geht aber auch nicht so auf jetzt und hier. Alles sehr spannend.

Selbst das von mir so geliebte ,,Law Of Unintended Consequences“, das Gesetz über nicht beabsichtige Folgen der jeweiligen Aktionen, schlägt hemmungslos zu: Genau das, was Putin nicht will, zementiert er mit seinem Krieg dauerhaft ein: Ein ukrainisches Nationalbewusstsein, das alle, auch die Russischstämmigen, plötzlich zu einer neuen Nation zusammenschweisst. Ups, war nicht beabsichtigt …

Was Väterchen Wladimir allerdings macht, wenn er seinen Arsch wirklich eingezwickt bekommt, und ob er dann nachgibt oder ins atomare Körbchen greifen wird …

Wir leben in aufregenden Zeiten.

Slawa Ukraini.