Die Inseln unter dem Wind. Eine Reise, ein Besuch und eine Rückkehr.

Wer auch immer den Satz erfand „Neapel sehen und sterben“ hatte keine Ahnung. Nun bin ich schon seit mehreren Stunden hier, und von Sterben keine Spur. Allerdings ist es so heiss, dass das langsam echt eine Alternative wäre.  Der Charme des Bahnhofes ähnelt dem aller Bahnhöfe. Nur an einem Ende der Halle steht ein verrostetes Stützgerüst gegen die Decke gepölzt. „Das Erdbeben, signore … “ zuckt man die Schultern. Welches Erdbeben, will man fragen. Ach, suchen Sie sich eins aus. Diese Leute aus dem Norden …

Ich fahre auf eine Insel ohne Strassen und folgerichtig per Bahn und Schiff. Ich liebe geruhsames Reisen, ich liebe die Bahn und ich finde Schiffsreisen romantisch. Spätestens als ich meinen Rucksack durch die neapolitanische Mittagshitze schleppe, beginne ich an meiner Liebe zu zweifeln. Egal. Der Hafen riecht nach Seetang, Dieselöl und der grossen weiten Welt.

Wonach das Schiff riecht, das uns nach Lipari bringen soll, kann ich beim besten Willen nicht definieren. Einmal in Bewegung, vertreibt der Fahrtwind die interessante Geruchskombination aus hundert Jahre nicht waschen und einem südserbischen Bahnhofspissoir, die kleine Fähre stampft friedlich nach Südwest, vom Vorschiff steigen Fetzen von Essensgerüchen in den Abend und ich bin mit mir selber und der Welt wieder versöhnt.

Anderntags, fünf Uhr früh. Die Nacht war lausig, ich stehe durchfroren an Deck. Ein graulila Dunstschleier liegt über dem Wasser, es herrscht das, was die Franzosen den „kleinen Morgen“ nennen. Kalt, müde, hungrig. Automaten, selbst italienische, brauen einen erbärmlichen Kaffee.

Und dann, schräg rechts, taucht plötzlich eine Insel auf. Ein spitzer schwarzer Kegel, das obere Drittel in eine dichte schwarze Wolke gehüllt, speit orangerotes Licht, kleine Flammenzungen fressen sich in die Wolke. Gleichzeitig beginnen die ersten roten Sonnenreflexe auf tausend kleinen Wellen zu tanzen, flirrendes Licht flutet über den Horizont. Und dann, sozusagen als Krönung der Sache, zucken auch noch Blitze durch die Wolken um den Gipfel, und ferner Donner grollt zu uns  herüber. Gott strafe mich, so war es und ich habe nichts dazu erfunden: Ein Gewitter über Stromboli bei Sonnenaufgang. Der Anblick entschädigt für dreissig Stunden Anreisezeit, Gerüche, Hitze, Kälte und miesen Kaffee. Jawohl, genau hier müssen die Burschen die Oper erfunden haben, anders ist das gar nicht möglich.

Als der Gott Vulkanus seine Esse im Vesuv bei Neapel baute, schüttete er das übrig gebliebene Baumaterial einfach in den Hinterhof. Und dort liegt es heute noch: Sieben winzige, steile Felskegel, die auf halbem Weg zwischen Neapel und Messina aus dem azurblauen Wasser ragen, abseits der restlichen Welt, inmitten des Tyrrhenischen Meeres: Die Aeolischen Inseln, auch Liparische Inseln oder Inseln unter dem Wind genannt. Die Fischer und Matrosen nennen sie die „sette sorelle“, die sieben Schwestern.

Der österreichische Erzherzog Ludwig Salvator, geboren in Mailand, aufgewachsen in Prag, grossherzoglicher Sohn aus der Toscana und Zeit seines kurzen Lebens ruheloser Wanderer auf den sieben Weltmeeren, kam erstmals 1887 hierher. Ursprünglich wollte er ja grossherzoglicher Beamter werden, doch das verwehrte man ihm im Grossherzogtum Toscana, aus innenpolitischen Gründen, die schon damals ziemlich dumm gewesen sein dürften, denn Ludwig Salvator wäre ein ausgezeichneter Beamter geworden. So wurde er Seefahrer, und auf allen seinen Fahrten schrieb er säuberlich alles auf, wie viele Einwohner die und die Insel hätte, wie viele Kinder, wie viel Post jährlich hierher komme und derartiges. Wie gesagt, ein vortrefflicher Beamter.

Eigentlich war der Erzherzog unterwegs nach Ibiza, wo es ihm die Burgen auf Lanzarote angetan hatten, aber es gefiel ihm auf Lipari ausserordentlich gut, also blieb er ein Weilchen. Schliesslich hetzte ihn ja kein Fahrplan. Er blieb und notierte, säuberlich. 1894 erschien in Prag bei Heinrich Mercy ein achtbändiges Werk: „Die Liparischen Inseln“, ohne Autorenvermerk. Je Insel ein Buch, plus ein allgemeines. Jedes Haus, jede Kapelle, jedes Schiff im Hafen säuberlich vermerkt. Im allgemeinen Einführungsband schrieb er: „Der Charakter der Liparoten ist sanft und gutmüthig; vollkommen sicher kann der Fremde unter diesem gefälligen, heiteren, fröhlichen Völkchen, das schnell sein Herz gewinnt, dahinwandern und bald wird es ihm unter den Leuten gefallen und er wird sich wie zu Hause fühlen.“

Ich bleibe nicht auf der Hauptinsel Lipari, sondern fahre weiter nach Alicudi, der letzten und kleinsten der sieben Schwestern, weit draussen im Westen. Ohne Strom, ohne Strassen und Autos, ohne Anlegemole. Wer hier aussteigt, muss über die schwankende Reling in ein kleines Fischerboot klettern, das zwei schweigende Männer vom Ufer herübergerudert haben.

Ebenso schweigend rudern sie wieder zurück. Hinter uns verschwindet das Fährschiff, vor uns steil, menschenleer, windzerfressen, sonnengebrannt, winzigklein: Die Insel. Ausser mir steigt niemand aus. Das hätte mir zu denken geben sollen.

Die Hänge sind mit schmutzigweissen Häusern besprenkelt. Beim Näherkommen sind alle zerfallen, leere Fensterhöhlen starren in den blauen Himmel. Nur unten, wo das Boot jetzt anlegt, sehen ein paar Häuser bewohnt aus.

Die Insel ist vom Ufer an bis zur Spitze des steilen Vulkankegels, rund dreihundert Meter höher, mit winzigkleinen, schmalen Terrassen überzogen. Seit Jahrtausenden haben hier Menschen gewohnt, haben dem steilen, aber fruchtbaren vulkanischen Boden ein karges Lneben abgerungen, haben bis auf den Gipfel, Stein für Stein, mit der Hand Stiegen angelegt und Regenzisternen, haben Terrassen gebaut und Erde in Körben hinaufgeschleppt, um Paradeiser, Ölbäume und Kapern zu ziehen.

Als der Erzherzog hier unter dem freundlichen Völkchen weilte, ernährte die Insel über zweitausend Seelen. Heute leben hier knapp fünfzig.

Die Wege sind mannshoch zugewachsen mit Dornengestrüpp, die Zisternen verfallen und leer, auf den Terrassen steht kniehoch verdorrter wilder Hafer.
Als um die Jahrhundertwende die Dampfschiffe von Messina nach Neapel zu fahren begannen, kamen plötzlich die kleinen Segelschiffe nicht mehr, mit denen die Liparoten ihre Oliven und Kapern verschickten. Gleichzeitig raffte die Ölbaumpest einen Grossteil der Bäume hinweg, eine ökonomische Katastrophe brach über die Inseln herein. In der Dekade bis zum ersten Weltkrieg wanderte so gut wie die gesamte Bevölkerung aus, hier auf Filicudi und drüben auf Alicudi, auf Panarea und Vulcano. Manche nach Argentinien, manche nach Australien, die meisten in die USA.

Toni Umina kommt aus Pipe Creek, Texas, und wenn er mit mir redet, merkt man das auch deutlich. Aber wenn Tony unter den wenigen Männern der Insel sitzt, sieht er aus wie einer der ihren. Er spricht auch noch den Dialekt der Insel, obwohl er schon im Amerika geboren ist; dort hat er ihn von seiner Grossmutter gelernt, die zeitlebens nichts anderes sprechen konnte: Ein wenig Spanisch, ein wenig Arabisch, ein wenig Sizilianisch und ein wenig Napoletanisch, ein paar griechische Worte sind auch dabei, die waren nämlich auch hier, und dazu den weichen, singenden, süditalienischen Tonfall. Wunderschön. Ich verstehe kein Wort.

Tony schon, er übersetzt für mich. Sein Grossvater hat hier noch Haus und Grund besessen, bevor er nach Amerika ausgewandert ist. Als sein Grossvater in New York ankam, erzählt mir Tony am Abend, suchte er das Gold, mit dem in Amerika die Strassen gepflastert sein sollten, so wie man es sich in den schäbigen kleinen Bauernkaten von Alicudi erzählte. Und so kniete nach seiner Ankunft der Grossvater vor dem Laden seines Cousins in Brooklyn fassungslos auf dem Pflaster und konnte es nicht begreifen, dass der Boden hier auch nur Staub und harte Steine war, so wie zu Hause.

Zu Hause war für die Grossmutter, die Tony erzog, immer die alte Heimat. Zu Hause war alles schöner, ärmer, reiner. Also ist Tony heute wieder da, um das alles zu finden. Ausserdem ist Tony Grundstücksmakler, ein ziemlich reicher sogar. Und die alten Gründe, über hundert Jahre völlig wertlos, sind heute plötzlich wieder etwas wert: Reiche Norditaliener kaufen im Süden nur mehr Grundstücke auf, auf denen schon alte –  möglichst verfallene – Häuser stehen. Weil sonst gibt es nämlich keine neuen Baugenehmigungen und Umwidmungen, offiziell zumindest. Im Grundbuch in Messina war Tony auch schon. Die Leute, die dort als Besitzer eingetragen sind, sind fast alle seit mehr als einem halben Jahrhundert tot. Und wem es heute gehört, weiss sowieso niemand. Dio mio, signore, wen kümmert schon Land auf Alicudi …

Tony kümmert das, er wittert ein Geschäft, er vertritt eine Gruppe von 50 oder mehr Kindern von Auswanderern, die alle hier irgendwo noch Landansprüche haben. Die Inselbewohner wittern es auch, und ausserdem ist man hier auf Auswanderer nicht gut zu sprechen. Tony hat lange Listen in Messina kopiert, die Linien in den Gesichtern werden hart, wenn die Männer am Abend in der einzigen taverna miteinander reden, und die Alten haben plötzlich wieder ein erstklassiges Gedächtnis.

Es ist die Welt im kleinen, ein Mikrokosmos, getränkt von Misstrauen, begrenzt vom schmalen Strich zwischen blauem Himmel und blauem Meer, auf dem die Schiffe langsam sichtbar werden, lang bevor sie anlegen. Dort sind auch die Auswanderer verschwunden, vor hundert Jahren, und wieso kommen sie jetzt zurück, zusammen mit anderen Fremden, die auch keiner will?

„Wenn Du hier auf der Insel etwas unternehmen willst,“ sagt Giovanni, der Kaschemmenwirt, Krämer, Postbote und Schiffskartenverkäufer der Insel, „musst du eine Gruppe mit einer ungeraden Zahl bilden. Die Zahl muss unter drei liegen.“ Und dann putzt er ostentativ den Sessel, auf dem ich gerade gesessen bin.

San Bartolomeo ist ein kleiner Weiler, ungefähr eine Wegstunde steil über die Westflanke, knapp unter der Spitze der Insel. Das einzige noch intakte Gebäude ist die Kirche. Das letzte Erdbeben hat die Spitze des Kirchturms grotesk verschoben, das nächste wird ihn wahrscheinlich zum Einsturz bringen. Im verlassenen Pfarrhaus daneben zwei winzige Zimmer, gestampfter Lehmboden, grobe, weiss gekalkte Wände, ein altes Metallbett mit bemaltem Haupt, ein Metallkreuz an der Wand. Ich sitze auf einer halb verfallenen kleinen Steinterrasse und starre auf das Meer hinaus.

Nach drei Tagen fällt mich die Einsamkeit an wie ein Tier. Eigentlich wollte ich ja zwei Wochen bleiben, aber wenn ich hier nicht morgen mit dem Schiff wegkomme, dann werde ich auf der Stelle verrückt.

Das Schiff ist die einzige Verbindung zur Aussenwelt und kommt laut Fahrplan jeden Tag. In Wirklichkeit kommt es, wenn es das Meer zulässt. Oder der Wind. Oder die Götter. „Einmal öfter, dann weniger oft“ sagen die Einheimischen und zucken mit den Schultern. Wen kümmert schon, wann das nächste Schiff kommt. Diejenigen, die hier weg wollten, sind schon lange weg.

Am nächsten Tag kommt kein Schiff. Am übernächsten auch nicht. Und als es dann doch kommt, ist mein Inselkoller schon vorbei.

Ich sitze am Abend unten am Meer und lasse das Dunkel der Nacht langsam auf mich herunterfallen, wie schwarzen Samt. Kein Licht ist zu sehen, nur die Sterne funkeln. Irgendwo spielen Fischer eine Partie Scoppa, ein sizilianisches Kartenspiel mit den Spielfarben des ägyptischen Zigeuner-Tarots: Schwerter, Stäbe, Kelche und Taler. Der Wind weht Sprachfetzen durch die Nacht, über allem das Rauschen des Meeres. Immer rauscht das Meer, es gibt auf der ganzen Insel keinen Ort, an dem man das Meer nicht hört.

„Salute“, sagt Tony und schiebt mir ein Glas mit Rotwein zu.

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