Von Avatar, Thoreau und Locke

Ich war mir heute mit Tochter, Sohn und Schwiegertochter Avatar anschauen, den neuen Film von David Cameron.

Wenn Sie diese Zeilen lesen und den Film noch nicht gesehen haben – hören Sie auf zu lesen, gehen Sie sich den Film anschauen, kommen Sie wieder. Es lohnt sich. Nein, nicht wegen meiner Schreibe, sondern wegen des Films. Er ist durchaus sehenswert.

Die Technik, sowohl die dreidimensionale Darstellung als auch die ganze computergenerierte Szenerie, ist genial.

Ansonst ist der Film ein einziges großes Klischee, oder auch Hollywood at it’s Best und gleichzeitig at it’s Worst. Anders kann ich das jetzt erstmal leider nicht ausdrücken.

Oder doch? Man könnte auch schreiben, Avatar ist ein klassischer Hollywoodschinken, denn selbstverständlich gewinnen die Guten. Verblüffend ist nur, wer am Ende als „die Guten“ dasteht.

Und immer wieder: Ganz tief in die Mottenkiste gegriffen, die übelsten Klischees herausgeholt. Aber auch die schönsten Vorstellungen.

Die fliegenden Berge, zum Beispiel: In zahllosen Comics habe ich die schon gesehen, aber so schön hätte ich sie mir in Natura nicht vorgestellt.

Was mich verblüfft ist, wie tief muss das Trauma der Amerikaner darüber sitzen, dass sie den Aufstieg ihres schönen Landes mit dem Blut und letztlich dem Tod der meisten Ureinwohner erkauft haben, dass sie a) so einen Film machen und ihn b) ansatzlos zum bisher größten Boxoffice-Erfolg werden lassen. Ziemlich tief, wenn Sie mich fragen.

Mein Sohn nannte den Film eine Version von Der mit dem Wolf tanzt auf Drogen, mir fiel dazu eher They Called Him Horse ein, wobei auch hier: Auf schweren Halluzinogenen. Aber vielleicht sind das auch die Zeiten,  dass sich an der Optik keiner stört. Er hat auch was von George Segal, wenn er für die entrechteten Innuit kämpft. Und von ungefähr weiteren 50 Filmen ähnlicher Bau- und Machart.

Außerdem ist da noch jede Menge Pocahontas drinnen, auch die Vorstellung von Arkadien schimmern durch, wenn man will, auch der Herr Beuys, über der Steppe abgeschossen und vom einheimischen Schamanen gerettet, komplett mit Fett und Tierhäuten. Welches Klischee wollen Sie noch? Man könnte ein Preisausschreiben machen: Wer findet die meisten?

Nachdenklich macht ein Satz des Hauptdarsteller in seinem Videoblog: „Wir haben nichts, was wir ihnen anbieten könnten. Sie wollen einfach nichts von uns.“ Vielleicht hätten sich die Verantwortlichen das vor Irak und Afghanistan auch sagen sollen. Oder schon vor Vietnam. Na ja, dafür dürfen sie sich jetzt in Haiti in Nation Building üben. Dabei werden höchstwahrscheinlich diverse déja-vu-Erlebnisse eintreten, denn das in Haiti ging ja schon mehrfach schief.

Es ist ja nicht so, dass die Amis das immer ganz schlecht machen. Schließlich haben sie mitgeholfen, Herrn Schickelgruber zu entsorgen, und ja, zusammen mit den Franzosen sind die wohl auch das Zweigestirn der bürgerlichen Revolution. Aber keine Angst, das haben die Franzosen auch nie wirklich verstanden, also sind sie da in bester Gesellschaft.

Henry David Thoreau würde sich über Avatar sicher sehr freuen, es ist schade, dass Thoreau in Weißen Haus und im Pentagon in letzter Zeit offenbar selten gelesen wurde. Oder auch Thomas Jefferson, immerhin dritter Präsident der neuen Republik, maßgeblicher Autor der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, wobei sich Jefferson dabei ausdrücklich auf den Philosophen John Locke und dessen Widerstandsrecht berief.

Locke, Hobbes, Hume – so wie ich David Cameron einschätze, hat er sie alle gelesen, Jefferson zählt in den USA sowieso zur Grundausbildung, und Thoreau zwar nicht, aber der Perfektionist Cameron kennt ihn sicher auch. Und es sind beileibe nicht alles klassische „Linke“ im europäischen Sinne. Zumindest Jefferson ist es sicher nicht, seine republikanischen Vorstellungen vom Staat prägen bis heute die Grand Old Party, also die Partei Reagans, Schwarzeneggers und der Familie Bush. Und auch Thoreau würde sich bei der überwiegenden Mehrheit klassischer europäischer linker Gedanken wohl eher mit Grausen abwenden. Und auf Locke hat sich dereinst Maggie Thatcher berufen.

Hollywood mixt aus all diesen Dingen einen genialen Cocktail. Und worüber regt sich die Öffentlichkeit in den USA auf? Darüber, dass Avatar das Konzept des Nation Building gekonnt ad absurdum führt? (Wir haben nichts, was sie von uns wollen könnten.) Oder darüber, dass die Kavallerie hier die Bösen spielen muss? Über Mord und Totschlag?

Nein. Die Leute regen sich darüber auf, dass Sigurney Weaver als verrückte Wissenschaftlerin raucht. Öffentlich. Im Film. Das gebe ein schlechtes Beispiel.

Sie sind schon ein sehr seltsames Volk, die Amis.

Aber was der Mann, der die Szenerie entworfen hat, zum Rauchen bekommen hat – das will ich auch probieren.

4 Antworten auf „Von Avatar, Thoreau und Locke“

  1. Hab‘ den Film gesehen, ich empfinde ähnlich. Die stilistische und sonstige Klauerei ist meiner Meinung nach gerechtfertigt, wenn die Message stimmt, was hier durchaus der Fall sein dürfte. Ein gelungener Edutainment-Film, gewissermaßen. Und der moralische Zeigefinger wird gerade dadurch entschärft, dass die Helden und Heldinnen eben nicht perfekt sind und politisch unkorrekterweise u.a. Zigaretten rauchen.

    LG, OZ

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