Willkommen in Felsőr oder Warum das mit den Kärntnern so ist, wie es ist.

Felsőr ist der ungarische Name für Oberwart im Burgenland. So etwas erfährt man allerdings nur, wenn man dort hinfährt, denn es steht auf den zweisprachigen Ortstafeln. Denen von Oberwart. Und weil da sonst niemand ein Aufheben davon macht, wird das auch normalerweise nicht erwähnt, so dass man es eben nur erfährt, wenn man dort auch hinfährt.

Und wer, bitte, fährt schon nach Oberwart im Burgenland?

Ich, vor ein paar Monaten, um mich dort im Krankenhaus einer Niere zu entledigen, die man als irgendwie kaputt identifiziert hat. Und weil mein Arzt und guter Freund im steirischen Hartberg lebt, das gleich über der Landesgrenze auf der steirischen Seite liegt, und der kennt den Primar am benachbarten Landeskrankenhaus … so kommt ein Wiener nach Felsőr.

Die Bewohner von Oberwart/Felsőr mögen mir verzeihen, ihre ist eine hübsche Stadt, und in Wirklichkeit sogar dreisprachig, weil die burgenländischen Kroaten dort auch sind, zumindest war es mein Bettnachbar, da konnte ich gleich meine Kenntnisse von naš jezik, meinem kümmerlichen Serbokroatisch, ausprobieren.

Außerdem, und alleine dafür gehört Oberwart/Felsőr hiermit vor den Vorhang gebeten, schaffen sie seit mehr als dreißig Jahren etwas, was man in Kärnten, selbes Land, nämlich Österreich, aber keine zweihundert Kilometer weiter südlich, bis heute nicht auf die Reihe bekommt: Das friedliche Nebeneinander verschiedener Sprachkulturen, komplett mit Ortstafeln und Wegbeschriftungen.

Nun ist es aber einmal so, dass die beste aller Ehefrauen aus Kärnten kommt, somit komme ich nicht umhin, mich mit diesem Thema auseinander zu setzen.

Und immer wieder werde ich von meinen Freunden gefragt (so diese selbst keine Kärntner sind): „Sag’ einmal, wie hältst Du es dort aus?“  Sehr beliebt als Kommentar, wenn ich meinen Aufenthalt im südlichsten Bundesland Österreichs bekannt gebe, ist auch: „Also das in Kärnten, das verstehe ich einfach nicht.“

Hinzugekommen zum klassischen Ortstafelthema ist in jüngster Zeit die Thematik der Hypo Alpe Adria, jener biederen Provinzbank, die sich vor ein paar Jahren plötzlich einbildete, sie müsse jetzt bei den Großen mitspielen, was bekanntlich in einem Desaster endete und die Republik mehrere Milliarden Geld gekostet hat. Was zur Beliebtheit der Kärntner nicht beigetragen hat, komplett mit all dem, was man jetzt so um Jörg Haider ausgräbt, im Zuge der Ermittlungen, wie es so schön heißt. Und schon wird in allen Medien die Kärntner Seele beschworen, was immer das denn auch sein mag.  Doch davon später.

Ich füge, wenn ich bekannt gebe, unser Wohnsitz in Österreich werde in Zukunft in Kärnten sein, immer hinzu, „aber bei den Windischen, in Unterkärnten“, was zumindest bei der Mehrheit meiner Freunde zu deutlich erleichtertem Aufatmen führt, aber das erklärt jetzt auch nicht, wieso das mit den Kärntnern so ist, wie es ist.

Ich glaube, man muss das in mehrere Teilbereiche zerlegen.

Wer mich kennt, weiß dass jetzt ein historischer Diskurs folgen muss. Keine Angst, er wird nicht lange, aber es ist nun einmal ein Faktum, dass auf dem Gebiet, das wir heute als Bundesland Kärnten kennen, seit mehr als viertausend Jahre Menschen leben. Und natürlich haben sich die Grenzen dieses „Kärnten“ in dieser Zeit mehrfach verschoben.

Vielleicht sollte man erwähnen, dass es – bis auf die letzten zweihundert Jahre – dabei immer völlig wurscht war, was für eine Sprache gesprochen wurde. Und das mit der Nation – alles später.

Erstmal kommen die Römer, die kommen in Europa fast immer, da finden sie schon das blühende keltische Königreich der Noriker vor, mit dem Hauptort auf dem Magdalensberg, und einer Ausdehnung im Norden bis an die Donau, und im Süden bis  an die Adria, schließlich trieb man nachweislich mit den Etruskern Handel.

In österreichischen Lesebüchern, vor allem denen der zweiten Republik, wird dieses keltische Königreich Norikum gerne als die Keimzelle Österreichs bezeichnet, wenn man so will, sind also die Kärntner die ersten Österreicher, das lässt eine Reihe von Schlüssen zu, die verschieben wir jetzt auch auf später.

Erst kommen noch die Germanen, und dann die Slawen. Das hat ganz allgemein mit der Völkerwanderung zu tun, wie wir aus der Schule wissen, und führte zum Untergang des römischen Reiches, der Gote Odoaker setzt 476 nach Christus den letzen römischen Kaiser ab, das war’s. (Im Osten geht die Sache noch mal tausend Jahre weiter, bis zum Fall von Konstantinopel, aber was Kärnten betrifft, ist das wurscht.)

Besagte Völkerwanderung spült nicht nur die Germanen nach Mittel- und Südeuropa, sondern kurz darauf auch die Slawen, die – ihrerseits von den Awaren aus dem Osten bedrängt – um 600 die Drau entlang nach Westen vorstoßen. Bei Lienz bekommen sie 610 von den Bayern, die ihrerseits das Pustertal heraufziehen, ordentlich eins drauf, das stoppt den slawischen Expansionsdrang. Und im Süden ist es auch nicht besser, da bekommen die Slawen von den Langobarden im Friaul Saures.

Und schon ist unser historisches Sittenbild fertig: Deutsch aus dem Westen, Italienisch (na ja, was man in Udine so dafür hält) aus dem Südwesten, und Slowenisch aus dem Südosten, Kreuzungspunkt ist Kärnten – da hat sich bis heute nicht viel daran geändert.

Die Slawen jedenfalls, in ihrem Expansionsdrang nach Westen und Süden gestoppt, siedeln sich in den fruchtbaren Tälern von Drau, Mur und Save an und bilden mit der keltoromanischen Bevölkerung, ein neue Einheit: Das slawische Fürstentum Karantanien. Zentrum war das Zollfeld, wo auch der berühmte Fürstenstein steht, die umgedrehte Basis einer römischen Säule, auf der die jeweiligen Herrscher rituell eingesetzt wurden.

Dieser Brauch wird auch von den Bayern übernommen, die hundert Jahre später die Slawen im südöstlichen Europa missionieren, man darf annehmen, dass das alles nicht sehr friedlich von Statten ging, hundert Jahre später jedenfalls gehört Karantanien zu Bayern. Und noch einmal hundert Jahre später besiegt Karl der Große die Bayern und kassiert bei der Gelegenheit auch Karantanien. Der Name gefällt ihm, das mit dem Herzogstuhl auch, also errichtet er die Mark Karantanien, die reicht im Süden bis Spoleto und umfasst auch die Lombardei, dazu gehören noch Bayern sowie die Gebiete des ehemaligen Norikum bis zur Donau und sogar darüber hinaus.

So gesehen haben die Kärntner eine mächtige Geschichte. Doch die war nicht sehr nett mit ihnen, denn aus der Mark Karantanien wurde später die Steiermark, und auch der Rest kam bald wieder abhanden, so dass die Habsburger schließlich, gegen Ende des Mittelalters, ein stark geschrumpftes Kärnten übernehmen. Als feine Ironie der Geschichte bekommen die Habsburger Kärnten vom Kaiser Ludwig IV, der bayerische Wittelsbacher träumt von einer Erbkaiserwürde für Bayern, legt aber mit dem Lehen die Basis für Macht des Hauses Habsburg im nächsten halben Jahrtausend und den gleichzeitigen Niedergang Bayerns als Kolonialmacht in Südosteuropa.

Genug Geschichte. Jedenfalls lernen wir daraus, dass Kärnten, seitdem das slawische Herzogtum Karantanien von bayerischen Kriegsmissionaren überrannt wurde, stets fremddefiniert war. Die lange Kette fränkischer Könige nach Karl dem Großen vergab Kärnten immer wieder an andere Herrscher als Lehen, schon 1270 wird mit Graf Ulrich von Heunburg zum ersten Mal ein Kärntner Landeshauptmann berufen, da kann sich Onkel Pröll noch was abschneiden.

Na ja, egal. Wichtiger ist die Erkenntnis, dass es – man wäre geneigt zu sagen, selbstverständlich – auch immer lokale Aufstände gegen die diversen Fremdherrschaften in Kärnten gegeben hat, man erspare mir hier die Aufzählungen. Aus jener Zeit stammt etwa die Beziehung zur fränkischen Stadt Bamberg: Das erst 1007 gegründete Bistum Bamberg erhielt von diversen Frankenkönigen reichhaltige Besitztümer im heutigen Kärnten, wohl auch, weil man so versuchte, die Bildung einer selbständigen Erbherrschaft im Herzogtum zu verhindern.

Und das wäre in meinen Augen die erste Lektion: Kärnten hat eine tausendjährige Geschichte der Rebellion gegen eine Herrschaft von „außen“, wie immer man das jetzt definieren mag. Und es stimmt schon: Das habsburgische Kernland umfasste schließlich die ewig kaisertreuen Tiroler, die entweder den Bayern oder den böhmischen Pšemisliden abgenommenen Länder ober und nieder der Enns, die Steiermark und eben das ewig rebellische Herzogtum Kärnten.

Und das war, und das wäre Lektion zwei, grundsätzlich nicht „deutschsprachig“, wobei man da jetzt streiten kann, wie weit. Denn damals gab es den Begriff der Nation nicht, wichtig war allenfalls der Stand, Herrschaftssprache im Mittelalter war sowieso Lateinisch, und was für eine Sprache der jeweilige Bauer irgendwo sprach, war sowas von egal. Wobei hier gleich mit dem Idealbild des „Multikulti im Mittelalter“ aufgeräumt werden muss, denn die einzelnen Volksgruppen lebten nebeneinander, ohne sich zu vermischen.

Und jetzt müssen wir leider noch einmal die Geschichte bemühen, in Form der französischen Revolution, denn diese erfindet die Nation, diese neue Idee von „ein Volk, ein Staat“, das irgendwie zwingend mit „einer Kultur und einer Sprache“ zusammenhängt. Im zentralistischen Frankreich ließ sich das auch noch relativ einfach umsetzen (obwohl die Korsen das bis heute noch nicht ganz eingesehen haben), aber dort, wo sich die Deutschen mit den Slawen vermischen, in einem breiten Gürtel von der Ostsee herunter bis zur Adria, hat das in den vergangenen zweihundert Jahren zu großen Problemen geführt. Weil mit dem nebeneinander auf ein und demselben Territorium, damit war jetzt nix mehr, weil die Parole „ein Volk“ nicht nur zu „einer Sprache“, sondern auch zu „ein Land“ führt, so kommt Europa zu seinen Nationalstaaten.

Nur die Habsburger haben in den letzten hundert Jahren ihrer Regentschaft dieses Nationenprinzip wütend bekämpft, weil es implizit den gleichzeitigen Zerfall des vielsprachigen und damit polykulturellen Habsburgerreichs bedeutete. Und konsequenterweise haben die Siegermächte im Ersten Weltkrieg – allesamt Nationalstaaten – dafür gesorgt, dass genau das passiert ist.

Und die gemischtsprachigen oder, wenn man so will, gemischt kulturellen Gebiete, wurden dabei halt dem einen oder anderen Volk zugeschlagen. Und weil Deutschland, und damit „die Deutschen“ gerade besiegt worden waren und so nicht mit fürchterlich viel Sympathie rechnen durften, wurden gemischtsprachige Gebiete im Zweifelsfalle immer dem neuen Nationalstaat zugeschlagen.

Nur im Gebiet des heutigen Kärnten ist das Konzept nicht aufgegangen, der Rest zählt zum österreichischen Nationalmythos, über den, ganz besonders in Kärnten, keine Witze gemacht werden dürfen, und schon gar keine Fragen gestellt.

Im Abstimmungsgebiet waren aber, laut letzter amtlicher Feststellung der k.k.Verwaltung von 1911, rund 70 Prozent der Bevölkerung slowenisch, trotzdem stimmten, bei einer hohen Wahlbeteiligung, 59,04 der Wahlberechtigten für den Verbleib bei Österreich. Warum sie das getan haben, ist bis heute eines der ganz großen Enigmen, ich habe darauf keine Antwort, nur Vermutungen.

Vielleicht waren sie dem altvertrauten Karantanien, ihrem Koroška, einfach näher als dem diffusen neuen „Königreich der Serben und Kroaten“, in dessen Namen die Slowenen erst einmal gar nicht vorkamen. Vielleicht waren sie auch einfach konservative Bauern, die mit der neumodischen Idee einer slowenischen Nation, die von den jungen Stadtfräcken aus Laibach, mit nicht sehr viel Verständnis für das Kärntner Landleben, verkündet wurden, nichts anzufangen wussten oder damit nichts zu tun haben wollten. Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren, und Gespräche darüber sind, bislang zumindest, in diesem Land tabu, ich habe jedenfalls noch kein ernsthaftes führen können, weder mit windischen noch mit deutschen Kärntnern.

Den Windischen, wie deutsche Kärntner ihre slowenischen Landsleute nennen (das alte mittelhochdeutsche Wort für Fremde, auch als Welsche oder Walser bekannt), hat ihr Bekenntnis zu Österreich nix gebracht.  Entweder fielen sie dem Assimilationsdruck zum Opfer oder den Nazis, die sie offen verfolgten und deportierten. Von den über siebzig Prozent im damaligen Abstimmungsgebiet sind es heute, je nach Lesart, nur mehr zwei bis fünfzehn Prozent, der Streit ist noch anhängig.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ging es anderen Minderheiten in ähnlichen Situationen auch nicht besser. Von der Vertreibung der deutschsprachigen Minderheit aus der Südsteiermark weiß man eher weniger, wohl weil es auch nicht so viele waren, aber nähere Recherchen ergeben, dass es ihnen nicht besser ging, im Gegenteil. Und was die Spannungen zwischen Slowenen und Italiener betrifft, so liegt es wohl daran, dass weder Slowenisch noch der harte friulanische Dialekt zum Sprachschatz der Österreicher gehören. Taucht man dennoch etwas ein in die Geschichte, so kommen lauter unerfreuliche Dinge zum Vorschein. Zum Beispiel die Geschichte von der zugemauerten Höhle im slowenischen Istrien, in der man über zweihundert Leichen fand, alle mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen. Aber das ist keine Entschuldigung.

Es ist auch keine Entschuldigung, anzuführen, dass die Irredentisten im slowenischen Parlament, einem außerordentlich hässlichen Gebäude in Laibach, mindestens ebenso übel sind wie die Mitglieder des Kärntner Heimatbundes. So gab es einen Antrag zu einer Resolution (sie ging nicht durch), im Zuge der neu gewonnen Eigenstaatlichkeit erneut einen politischen Anspruch auf die ehemals slowenischsprachigen Gebiete in Kärnten zu erheben. Man kann das als pubertäres Gedöns eines jungen Staates abtun, man kann es aber auch als das nehmen, was es ist, nämlich brauner Gestank. Halt von der Maschikseite. Ändert aber nichts an der Braunheit.

Bei der Volksabstimmung über den Vertrag mit Kroatien über die Beilegung des Konflikts über die Bucht von Piran, die im Sommer 2010 über die Bühne ging, fielen Sätze, die nur deshalb keiner kennt, weil wir ja alle nicht Slowenisch können. Zum Beispiel der: „Jetzt haben wir vor hundert Jahren um ein paar Stimmen Kärnten verloren, und vor fünfzig Jahren um ein paar Stimmen Triest – wenn wir jetzt nachgeben, verlieren wir auch noch den Zugang zu unserem Meer“. Er hat tatsächlich naše more gesagt, sein Name sei hier schamhaft verschwiegen, ich will solchen Leuten keine Öffentlichkeit bieten, nicht einmal in meinem Blog.

Dazu kommt, dass die Slowenen im ganzen ehemaligen Jugoslawien ziemlich unbeliebt sind. Ich weiß das, ich lebe dort, und so gut ist mein Serbokratisch schon, dass mir das auffällt. Sie galten schon im alten Jugoslawien als besserwisserisch, überheblich und eingebildet, sie selbst sehen sich gerne als Musterknaben, wer’s nicht glaubt, der lese den Wikipediaeintrag zu Slowenien.

Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass es knapp zwei Millionen Einwohner der Republik Slowenien gibt, aber nur 559.404 Einwohner des Bundeslandes Kärnten, soviel zu Kärnten deutsch und ungeteilt, aber vielleicht meinen sie mit Kärnten nicht Karantanien oder Koroška, so genau muss ich das jetzt nicht wissen.

Dann gibt es auch noch einen (Kärntner) Landeshauptmann, der so strunzdumm ist, dass er nicht gleichzeitig gehen und Kaugummi kauen kann (beobachten Sie ihn einmal, wenn er stehen bleibt, dann fängt er gerne wieder zu kauen an). Der verbreitet dann so Schwachsinn wie die Kärntner Bevölkerung sei besorgt über das Wiederaufflammen der so genannten Ortstafeldiskussion. Die Kärntner sind über viele Dinge besorgt, zum Beispiel über ihre Schulden (jeder Wiener hat Schulden von 1500 Euro, jeder Kärntner von 6500 Euro, wenn man die jeweilige Landesschuld auf die Bevölkerung umlegt), zum Beispiel, oder über ihre Jobs (im August 2010 lag die gesamtösterreichische Abeitslosenquote bei 5,9 Prozent, in Kärnten bei 6,6), aber die Ortstafeln von Bleiburg oder Ebersdorf sind ihnen ziemlich egal.

Derselbe Landeshauptmann entblödete sich diesen Sommer auch nicht, im ORF zu behaupten, in den 70er Jahren hätte es konkrete jugoslawische Pläne zur Besetzung Unterkärntens gegeben, und nur das Verhandlungsgeschick des damaligen Kanzler Kreisky bei Marschall Tito persönlich habe Schlimmeres verhindert.

Das hat er tatsächlich gesagt. Ernsthaft. In Radio Kärnten.

Meine kroatischen Freunde sind, als ich es ihnen erzählt habe, vor Lachen fast gestorben. Jugoslawien hätte, so meinten sie dann, nachdem sie sich wieder erholt hatten, nie – niemals – für einen obskuren Sprachenstreit der höchst unbeliebten Slowenen irgendetwas riskiert, schon gar nicht so was. Aber in Kärnten kann man mit so was heute noch Politik machen.

Ach ja, die Kärntner Seele, wir wollten doch eingangs die Frage nach ihr stellen. Bislang haben wir folgende Teilergebnisse:

Erstens: Die Kärntner Seele besteht aus einem deutschen und einem slowenischen Teil. Das ist zwar historisch fundiert, dennoch leugnet jeweils die eine Volksgruppe die Existenz der anderen. Besonders hübsches Beispiel: Auf den ersten Tolarnoten des neuen Staates Slowenien gab es eine Abbildung des (eingangs erwähnten) Herzogstuhls. Teilweise verstehen die Slowenen die darauf folgende Aufregung in Kärnten bis heute nicht. In der Zwischenzeit haben sie eh’ den Euro, damit ist das Thema wieder vom Tisch.

Zweitens: Die Kärntner Seele ist traditionell rebellisch und der fernen Zentralgewalt gegenüber (in diesem Fall Wien) eher feindlich gesinnt.

Drittens ist etwas komplexer: Kärnten war einmal ein sehr reiches Land, der Bergbau, zum Beispiel, machte im Hochmittelalter aus Friesach die wichtigste Stadt zwischen Wien und Venedig, der silberne Friesacher Pfennig war Jahrhunderte lang eine hochsolide Währung. Wer genau schaut, vor allem in der Architektur von Städten wie St. Veit oder Völkermarkt, der kann auch heute noch Spuren davon finden, aber grosso modo ist Kärnten heute ein armes Land, der Bergbau und die damit verbundene Eisenindustrie des Vormärz von der Industrialisierung hinweggefegt. Ich habe einen Freund aus Friesach, er ist etwas jünger als ich, wenn ich dem das mit dem Pfennig erzähle, schüttelt er nur den Kopf. Heute sei seine Heimatstadt, meint er, so perspektivlos wie eine Sandmanufaktur in der Sahara, er selbst habe am Tag nach seiner Matura seine Heimatstadt fluchtartig verlassen und es seither nicht ein einziges Mal bereut.

Solche Sätze kann man oft hören, von Kärntnern, die nicht (mehr) in Kärnten leben. Und so leiten wir das dritte Ergebnis über die Kärntner Seele ab: Sie hat einen Minderwertigkeitskomplex. Und zwar einen doppelten: Einerseits den aller Österreicher („Wir waren einmal groß und mächtig, heute sind wir die Wurstel Mitteleuropas“) und andererseits noch einmal speziell als Kärntner (Sie erinnern sich: von Mailand und Bamberg bis Wien und Ungarn, Kärnten als Mittelpunkt der Welt). Und dieser doppelte Minderwertigkeitskomplex ist es, der uns direkt zum nächsten Thema führt, das ich ebenfalls schon zu Eingang angeführt habe: Der Murks um die Hypo Alpe Adria.

Nur so ist zu verstehen, warum eine kleine, unbedeutende Provinzbank, deren primäre Aufgabe die ordentliche Abwicklung des Landesbudgets war sowie die unspektakuläre Vergabe von Hypothekarkrediten im lokalen Bereich, eines Tages plötzlich hypertroph zu wachsen begann wie ein Krebsgeschwür, in fünf Jahren ihre Bilanzsumme verdreissigfachte (sic!) und mit einem protzigen Neubau der Klagenfurter Zentrale sozusagen auch architektonisch verkündete, man wolle jetzt bei den großen Buben mitspielen. Und – das ist der springende Punkt – keiner hat dagegen protestiert. Niemand. Es fanden vielleicht nicht alle so schlau, aber gesagt hat das keiner öffentlich. Im Gegenteil, die Politik in Form von Landeshauptmann Haider jubilierte und fand, endlich habe Kärnten wieder einen Teil jener Größe zurückbekommen („Wir sind ab heute reich“), die ihm historisch seit je her (oder zumindest seit Karl dem Großen, was ja fast dasselbe ist), zustünde.

In Wirklichkeit haben sich unsere biederen Bauernbuben auf dem Balkan über den Tisch ziehen lassen, und wenn nur die Hälfte der Geschichten stimmt, die man sich in Kroatien und Montenegro über die Hypo erzählt, dann waren sie noch viel dümmer, als wir es uns in unseren ärgsten Albträumen vorgestellt hatten.

Ganz erklärt ist dieses Phänomen dieser abartigen provinziellen Dummheit, gepaart mit spießiger Großmannssucht, noch nicht ganz durch diesen Minderwertigkeitskomplex, aber es ist ein erster Ansatz. Erweiternd könnte man noch ein wenig altmodischen Neid sowie den „Das-wollen-wir-auch-einmal-dürfen“-Komplex hinzufügen oder das, was ich das Velden-Pörtschach-Syndrom nenne.

Nämlich: Seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts macht die große Welt Sommerferien in Kärnten, genauer gesagt am Wörther See. Sie sind zwar nicht so prunkvoll und auch nicht so zahlreich wie ihre Verwandten am Comer See, am Lac Leman oder am Zürisee, aber sie stammen aus derselben Zeit, die feudalen Villen des Großbürgertums, das so seinen neu erworbenen Reichtum auch zur Schau stellen wollte, wie das Walter Benjamin so treffend analysiert hat. Ich will jetzt keine Diskussion darüber auslösen, wie reich die Sommergäste in Velden und Pörtschach heute tatsächlich sind, und wie viel von dem ganzen Talmi nur Staffage für das Trauerspiel Wörthersee ist und wie viel tatsächlich mit Geld hinterlegt. Schließlich sitzt hier die Flick-Stiftung, und gleichzeitig ist das Schlosshotel Velden gerade wieder einmal – halt, nein, es gehört ja jetzt der Hypo Alpe Adria. Und sucht einen neuen Besitzer. Sei’s drum, eine Wohnung beim Werzer in Velden steht derzeit mit 1,3 Mio Euro zum Verkauf an. Und das ist dann auch nur eine doofe Ferienwohnung in Österreich: Es ist schon noch immer so, dass dem kleinen Kärntner Bauernbuben bei seinem Ferienjob in Pörtschach oder Krumpendorf die Augen herausfallen, wenn er sieht, wie viel Geld andere Leute tatsächlich haben können. Und mit wie viel Macht das dann verbunden ist.

Von dort bis zu der Erkenntnis: Das will ich auch haben, ist es nicht so weit, wie manche denken mögen, und in der provinziellen Einfältigkeit kann es schon einmal passieren, dass so ein Bub glaubt, wenn er nur gut aussehen und einen dicken Wagen fahren kann, dann sei das schon die halbe Miete auf dem Weg zu Reichtum und Ruhm. Sie kennen die Geschichte vom Buben eines Veldener Autohändler, der recht fesch war und dann viel ererbtes Geld geheiratet hat, nachdem er kurz Finanzminister … lassen wir das, die Verfahren sind anhängig, sonst werde ich noch geklagt. Aber eine Zeit lang hat diese Kärntner Provinzfeschheit, dieses leicht schmierige, braungebrannte Blonde, dieses Vorstadtstrizzi-auf-dummdreister-Bauernbub irgendwo zwischen sportlich und blöd, sogar Einzug in die gesamt­österreichische Politik gefunden.

Das hat weniger mit Kärnten zu tun und mehr mit Jörg Haider, der bekanntlich aus Oberösterreich stammt und sich nur dort niedergelassen hat, wo er die besten Bedingungen für seine Art der populistischen Politik fand. Inzwischen ist die Blase geplatzt, die Sonne vom Himmel gefallen, die Kärntner sind im Rest von Österreich deutlich unbeliebter als vorher, und die Kärntner Seele hat eine weitere Schramme.

Ich will mich jetzt nicht zum Phänomen Haider äußern, das sollen Befugtere machen und tun es auch, wir gewinnen dafür die nächste Erkenntnis zur Kärnter Seele: Sie ist der tiefen Überzeugung, dass Kärnten und den Kärntnern in dieser Welt nur Ungerechtigkeit widerfährt. So wie in „Wir sind für die Anderen immer nur die Dummen“. Das könnte jetzt auch anders herum interpretiert werden, aber Sie verstehen schon, was ich meine. In Wien nennt man das „ang’rührt“: Die Kärnter Seele ist leicht ang’rührt und kommt gerne zu kurz. Oder so ähnlich. Ein Engländer würde jetzt sagen: They carry a chip on both their shoulders. Aber Englisch kann er ja nicht, unser Landeshauptmann. Macht nix, der deutsche Außenminister auch nicht. (Igler, du schweifst ab. Ja, Frau Chefin.) Also: Ang’rührt.

Die Mischung klingt ziemlich spießig, und das ist sie auch. Die Nazis, diese Inkarnation des wild gewordenen Kleinbürgertums, fanden bei den deutschen Kärntnern denn auch fruchtbaren Boden, es hat keinen Sinn, es zu leugnen, und genau so wie im Rest des Landes wird auch hier dieser Teil der Vergangenheit nicht aufgearbeitet. Wozu auch, is’ eh’ oll’s supa, ned?

Das klingt böse? Das soll es auch.

Natürlich sind nicht alle Kärntner so. Viele unserer Kärntner Freunde stehen ebenso fassungslos wie unsereiner vor dieser aus dem Ruder gelaufenen Provinzposse. Das heimtückische dabei ist ja, dass Kärnten ein von Gott speziell mit Schönheit gesegnetes Fleckchen Erde ist und die Kärntner an und für sich irrsinnig nette Menschen sind; ich kann gut verstehen, wie man als Kärntner feuchte Augen bekommen kann, wenn man an seine Heimat denkt. Und dass es ganz schwer ist, die Grenze zwischen volkstümlich und volkstümelnd zu ziehen.

Und natürlich haben uns die Bauern, ob windisch oder nicht, hier alle ganz herzlich willkommen geheißen, haben uns geholfen mit Rat und Tat, uns hilflosen Stadtmenschen im Kärntner Unterland, ich kann über die Menschen hier nur Gutes sagen, sie sind alle ganz freundlich, und keiner nimmt mir meinen Wiener Zungenschlag übel, oder meine kroatischen Nummerntaferln am Auto.

Ach ja, die Kärntner Seele? Na, so wie die aller anderen Österreicher. Nur noch ein bisserl mehr so. Irgendwo zwischen gemütlich und hinterfotzig, halt. Aber das wussten wir ja schon vorher, oder?

Von Avatar, Thoreau und Locke

Ich war mir heute mit Tochter, Sohn und Schwiegertochter Avatar anschauen, den neuen Film von David Cameron.

Wenn Sie diese Zeilen lesen und den Film noch nicht gesehen haben – hören Sie auf zu lesen, gehen Sie sich den Film anschauen, kommen Sie wieder. Es lohnt sich. Nein, nicht wegen meiner Schreibe, sondern wegen des Films. Er ist durchaus sehenswert.

Die Technik, sowohl die dreidimensionale Darstellung als auch die ganze computergenerierte Szenerie, ist genial.

Ansonst ist der Film ein einziges großes Klischee, oder auch Hollywood at it’s Best und gleichzeitig at it’s Worst. Anders kann ich das jetzt erstmal leider nicht ausdrücken.

Oder doch? Man könnte auch schreiben, Avatar ist ein klassischer Hollywoodschinken, denn selbstverständlich gewinnen die Guten. Verblüffend ist nur, wer am Ende als „die Guten“ dasteht.

Und immer wieder: Ganz tief in die Mottenkiste gegriffen, die übelsten Klischees herausgeholt. Aber auch die schönsten Vorstellungen.

Die fliegenden Berge, zum Beispiel: In zahllosen Comics habe ich die schon gesehen, aber so schön hätte ich sie mir in Natura nicht vorgestellt.

Was mich verblüfft ist, wie tief muss das Trauma der Amerikaner darüber sitzen, dass sie den Aufstieg ihres schönen Landes mit dem Blut und letztlich dem Tod der meisten Ureinwohner erkauft haben, dass sie a) so einen Film machen und ihn b) ansatzlos zum bisher größten Boxoffice-Erfolg werden lassen. Ziemlich tief, wenn Sie mich fragen.

Mein Sohn nannte den Film eine Version von Der mit dem Wolf tanzt auf Drogen, mir fiel dazu eher They Called Him Horse ein, wobei auch hier: Auf schweren Halluzinogenen. Aber vielleicht sind das auch die Zeiten,  dass sich an der Optik keiner stört. Er hat auch was von George Segal, wenn er für die entrechteten Innuit kämpft. Und von ungefähr weiteren 50 Filmen ähnlicher Bau- und Machart.

Außerdem ist da noch jede Menge Pocahontas drinnen, auch die Vorstellung von Arkadien schimmern durch, wenn man will, auch der Herr Beuys, über der Steppe abgeschossen und vom einheimischen Schamanen gerettet, komplett mit Fett und Tierhäuten. Welches Klischee wollen Sie noch? Man könnte ein Preisausschreiben machen: Wer findet die meisten?

Nachdenklich macht ein Satz des Hauptdarsteller in seinem Videoblog: „Wir haben nichts, was wir ihnen anbieten könnten. Sie wollen einfach nichts von uns.“ Vielleicht hätten sich die Verantwortlichen das vor Irak und Afghanistan auch sagen sollen. Oder schon vor Vietnam. Na ja, dafür dürfen sie sich jetzt in Haiti in Nation Building üben. Dabei werden höchstwahrscheinlich diverse déja-vu-Erlebnisse eintreten, denn das in Haiti ging ja schon mehrfach schief.

Es ist ja nicht so, dass die Amis das immer ganz schlecht machen. Schließlich haben sie mitgeholfen, Herrn Schickelgruber zu entsorgen, und ja, zusammen mit den Franzosen sind die wohl auch das Zweigestirn der bürgerlichen Revolution. Aber keine Angst, das haben die Franzosen auch nie wirklich verstanden, also sind sie da in bester Gesellschaft.

Henry David Thoreau würde sich über Avatar sicher sehr freuen, es ist schade, dass Thoreau in Weißen Haus und im Pentagon in letzter Zeit offenbar selten gelesen wurde. Oder auch Thomas Jefferson, immerhin dritter Präsident der neuen Republik, maßgeblicher Autor der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, wobei sich Jefferson dabei ausdrücklich auf den Philosophen John Locke und dessen Widerstandsrecht berief.

Locke, Hobbes, Hume – so wie ich David Cameron einschätze, hat er sie alle gelesen, Jefferson zählt in den USA sowieso zur Grundausbildung, und Thoreau zwar nicht, aber der Perfektionist Cameron kennt ihn sicher auch. Und es sind beileibe nicht alles klassische „Linke“ im europäischen Sinne. Zumindest Jefferson ist es sicher nicht, seine republikanischen Vorstellungen vom Staat prägen bis heute die Grand Old Party, also die Partei Reagans, Schwarzeneggers und der Familie Bush. Und auch Thoreau würde sich bei der überwiegenden Mehrheit klassischer europäischer linker Gedanken wohl eher mit Grausen abwenden. Und auf Locke hat sich dereinst Maggie Thatcher berufen.

Hollywood mixt aus all diesen Dingen einen genialen Cocktail. Und worüber regt sich die Öffentlichkeit in den USA auf? Darüber, dass Avatar das Konzept des Nation Building gekonnt ad absurdum führt? (Wir haben nichts, was sie von uns wollen könnten.) Oder darüber, dass die Kavallerie hier die Bösen spielen muss? Über Mord und Totschlag?

Nein. Die Leute regen sich darüber auf, dass Sigurney Weaver als verrückte Wissenschaftlerin raucht. Öffentlich. Im Film. Das gebe ein schlechtes Beispiel.

Sie sind schon ein sehr seltsames Volk, die Amis.

Aber was der Mann, der die Szenerie entworfen hat, zum Rauchen bekommen hat – das will ich auch probieren.

Warum das mit den Daten so kompliziert ist oder Real Men Don’t Do Backups. They Just Cry.

Heute Vormittag – ich sitze gerade an der Tastatur und arbeite still und bescheiden vor mich hin – stürmt die beste aller Ehefrauen, sichtlich erbost, in mein Arbeitszimmer und hält mir anklagend ihr Mobiltelefon hin. Es sei, so schäumt sie, eine unfassbare Frechheit des Erzeugers ihres Handys, dass besagtes Gerät Telefonnummern, die sie ganz sicher richtig eingegeben habe, einfach nicht speichere. Oder nicht mehr hergebe. Jedenfalls habe sie ganz, ganz sicher Norberts Nummer eingespeichert, und nun sei sie nicht mehr da. Oder einfach weg. Und ich sei im Hause doch der Technikexperte, und ich solle jetzt etwas tun.

Wenn Sie wissen wollen, was ich denke, fragen Sie am besten meine Frau. Also nehme ich ihr Samsung und sehe pflichtgemäß nach. Man kann dort auf die SIM speichern oder ins Gerät selber. Norbert gibt es keinen, weder noch. Computer sind furchtbar logisch und ganz emotionslos, bei Frauen ist das anders. Wer weiß, wo Norbert wirklich hingeraten ist.

„Hast Du ein Backup gemacht?

„Du weißt, dass das mit diesem Handy nicht geht, ich hab‘ kein Datenkabel.“

„Du könntest ja einfach parallel noch ein Telefonbuch auf Papier führen.“

„Nein, wozu? Ich hab’ ja mein Handy.“

*seufz*

Dabei ist die beste aller Ehefrauen da in guter Gesellschaft. Die überwiegende Mehrheit der Nutzer von digitalen Geräten hat das Konzept von Daten und deren Nutzung und wieso das bei analog anders ist als bei digital, noch nicht verstanden. Und wenn es um die Sicherung dieser Daten geht, ist es endgültig aus mit dem Verständnis.

Dass dabei der Begriff „Sicherheit“ bei digitalen Daten in distinktiv unterschiedliche Bereiche zerfällt, verwirrt dann keinen Laien mehr,  so weit kommt er erst gar nicht.

Der (damalige) Vorsitzende der deutschen Piratenpartei hat in der ZEIT 44/2009 unter anderem auch zu diesem Thema ein Interview gegeben. Jens Seipenbusch sieht überhaupt nicht wie ein Nerd aus, sagt aber recht kluge Sachen. Zum Beispiel, dass dem durchschnittlichen User völlig das Verständnis dafür fehlt, wie Daten heute gehandhabt werden.

Die Piraten sind überhaupt wert, dass man sich das genauer anhört, was sie so sagen. Die fordern ja nicht nur das freie Filesharing, obwohl sich da die Medien darauf aufhängen, sondern zuerst und vor allem die Umkehrung des Prinzips „gläserner Mensch“ zum Konzept „gläserner Staat“. Will heißen, jeder von uns sollte ein reales Problembewusstsein haben dafür, was für Daten über ihn oder sie genau wo gespeichert sind, und unter welchen Umständen sie vernetzt werden können.  Und dafür sollen auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Weil zum Beispiel die Schufa über Sie Daten sammeln kann, die die Einstellung Ihrer Bank zu Ihrer Kreditfähigkeit deutlich beeinflussen, aber Sie haben deshalb noch lange kein Recht, in diese Daten Einsicht zu nehmen und etwa allfällige – horribile dictu! – Fehler zu korrigieren.

Was würden Sie sagen, zum Beispiel, wenn Ihnen beim nächsten Bankbesuch Ihr Betreuer mitteilt, man habe Ihren Überzeihungsrahmen deutlich gekürzt? Ihr Betreuer wird etwas von Krise murmeln und Basel Zwei und dass Kreditrichtlinien jetzt strenger gehandhabt würden. Aber in Wirklichkeit hat eine Software einfach Daten über sie gesammelt. Zum Beispiel, dass Sie Ihre Gas- und Stromrechnung immer erst am letzten Stichtag oder ein paar Tage später einzahlen (weil da das Mahnprogramm nicht so schnell greift, machen wir doch alle). Daneben weiß die Software noch, dass Sie viel bei Hofer einkaufen und das noch eher billig, dass Ihre Leberwerte schlecht sind, dass Sie Steuerschulden haben und dass gegen Sie zwei Mahnklagen laufen. Dass die Steuerschulden ordentlich gestundet sind und dass Sie die Mahnklagen höchstwahrscheinlich gewinnen werden, weil sie völlig ungerechtfertigt sind, weiß es nicht, das Programm, so schlau hat es der Programmierer nicht machen können. Egal: Es reicht, Sie um eine Risikoklasse höher zu stufen, und schon ist der Überziehungsrahmen futsch.

Und sie können überhaupt nix tun. *BTDTBT*

Ja, solche Programme gibt es schon, und sie werden auch eingesetzt. Und das ist ja nur ein Beispiel dafür, wo alles Daten über uns liegen, und was man alles damit anstellen kann, Unerfreuliches. Bislang war so etwas nur Background für Hollywoodthriller, aber was nicht schon jetzt möglich ist, wird es spätestens in ein paar Jahren sein.

Es ist schon bezeichnend, dass die Grünen, die es immerhin geschafft haben, ökologische Fakten und daraus resultierende Notwendigkeiten ins politische Bewusstsein zu bringen, bei der Problematik der IT völlig versagen. Sie sind ja in Wirklichkeit doch nur arrivierte Apo-Opas, die genau so verspießern wie alle anderen auch. Oder kennen Sie einen bekennenden Nerd in einer europäischen grünen Partei? Na eben. Die deutschen Parteispitzen Claudia Roth und Cem Özdemir haben zwar im Bundestagswahlkampf fleissig getwittert, geblogt und sich auf Facebook ausgebreitet, aber auch nur deshalb, weil Barack Obama es auch so gemacht hat. „Wir müssen ins Internet.“ „Wieso?“ „Weiß ich nicht. Aber alle anderen machen es auch.“ Na bitte. Vor allem manche Twittermeldungen waren richtig süß peinlich.

Von Frau Glawischiwaschi wollen wir hier erst gar nicht reden.

Was mein Kollege Martin Blumenau vom Sender FM4 in seinem Blog, etwa hier oder hier, über das Bewusstsein in Österreich zum Thema Daten, Vernetzung und Schöne Neue Digitale Welt schim^W berichtet, kann nahtlos auf ganz Europa übertragen werden. Es herrscht absolut Null Bewusstsein (geschweige denn detaillierte Kenntnis) in der gesamten politischen Klasse darüber, was die Digitalisierung aller unserer Daten tatsächlich für unsere Gesellschaft in der näheren und weiteren Zukunft bringen wird und bringen könnte, und welche politischen Aktionen daraus resultieren sollten.

Dass sich die Nerds da zu einer eigenen Partei zusammenschließen, ist irgendwie verständlich, niemand weiß schließlich besser als sie, was wirklich abgeht. Dass sie kaum wer tatsächlich versteht (und sich alle daher am einzigen Programmpunkt, den sie zu verstehen glauben, nämlich dem Filesharing, aufhängen), steht auf einem anderen Blatt. Ungeschickt, wie Nerds nun einmal sind, bringen sie es auch nur sehr schwer rüber.

Dabei hat das Seipenbusch in seinem ZEIT-Interview wunderbar herausgearbeitet. Digitale Daten sind nämlich nicht nur überall und vernetzt, sondern auch flüchtig. So wie bei der besten aller Ehefrauen: Erst war Norbert noch da, schon ist er weg. Spurlos.

Ich weiss, die digitale Forensik kann viel, das kann man sogar studieren *staun*, aber wenn die Daten futsch sind, sind sie futsch. Zum Beispiel gelöscht und dann mit was anderem überschrieben. Oder einfach nur falsch abgespeichert.

Die alte, schon deutlich vergilbte Photographie meines Urgroßvaters wurde vor dem ersten Weltkrieg gemacht und ist damit rund hundert Jahre alt, aber abgesehen davon dass sie schwarzweiß ist, kann sie alles, was so ein Bild können muss. Was man zum Beispiel von den Bildern meiner Kinder auf meiner Festplatte nicht sagen kann. In so einer .jpg-Dateien lagern ja nur Formeln, nach denen dann das Bildprogramm erst das Bild errechnet. Das heisst, die Daten müssen nicht nur per se gesichert sein (Sie wissen ja: klassisches Datenbackup, mehrfach, physisch getrennte Träger, verschiedene Orte, mit system restore und inkrementeller history, blahfasel), ich muß auch noch das entsprechende Programm dazu mitsichern, denn wer weiß schon, wie lange der .jpg-Standard backward compatible bleibt, also ab wann man alte .jpg-Bilder nicht mehr so ohne Weiteres mit jedem Reader wird öffnen können. Und auch gleich noch das Betriebssystem, unter dem der Reader läuft. Und auch die Hardware, weil wer weiß wie lange klassische 16-bit-Software noch auf gängigen Umgebungen laufen wird.

Und das ganze auch noch hundert Jahre lang, ohne weitere Investitionen, bitte, einfach in den Kasten legen und fertig. Na, ich bin ja neugierig, was meine Erben in hundert Jahren mit meinem Stick und den darauf gespeicherten Bildern von (dann) Opa und Oma in der Kindheit anfangen werden, aber so einfach wie beim Bild von meinem Uropa selig wird’s nicht werden, das trau’ ich mich jetzt einmal zu behaupten.

Das Bewusstsein, wie flüchtig elektronische Daten sind, ist (wenn überhaupt möglich) noch geringer als jenes darüber, was mit Daten alles für Schweinereien getrieben werden können. Deshalb fordert Piratenvorsitzender Leng auch deutlich ein (ich zitier’ jetzt noch einmal aus dem Gedächtnis) „völlig neues Bewusstsein“ bei „der grossen Mehrheit der Bevölkerung“ über die tatsächliche Bedeutung von Vernetzung und damit ubiquitärem Zugriff sowie der tatsächlichen Volatilität digitaler Daten, sowohl was Missbrauch als auch Flüchtigkeit oder einfach nur menschliche Schlamperei betrifft, und was das für den demokratischen Staat im 21. Jahrhundert bedeutet.

Mmh. Sehr schön. Beeindruckt richtig ich war. Wie das zustande kommen soll, wollte oder konnte allerdings auch Herr Leng nicht sagen, vielleicht hat das auch der ZEIT-Redakteur zu fragen vergessen. Ist ja egal, so wie’s aussieht werden wir noch öfters die Gelegenheit haben, über dieses Thema nachzudenken. Und das mit dem Bewusstsein wird halt noch ein bisserl dauern.

Zum Beispiel darüber, dass es nicht ausreicht, alle Telefonnummern in seinem Mobiltelefon gespeichert zu haben, selbst wenn sie dann auch tatsächlich drin sind, weil das blöde Ding ja nicht nur verloren gehen oder geklaut werden kann, sondern auch einfach eines Tages seinen Geist aufgeben wird. (Ja, ich weiß, die Dinger leben meist viel länger als ihr marketingtechnischer Produktzyklus. Aber tragfähige Backupstrategie ist das trotzdem keine.)

Derzeit ist eher die Gegenbewegung im Gang, denn die DAU dieser Welt gehen mit ihren Daten um, als gäbe es kein Morgen. Man speichert seine Daten zur Gänze *schüttel* in irgendeiner digitalen Wolke, sprich $irgendwo auf $irgendeinem Server. Und wer da noch Zugriff drauf hat oder haben könnte, schert sowieso keinen.

Zum Beispiel die US-Regierung, wenn der Server in den USA steht, was bei iDisk & Co eher die Regel als die Ausnahme sein dürfte. Also wundern Sie sich bitte nicht, wenn bei Ihrem nächsten USA-Besuch der Beamte der Einwanderungsbehörde Sie besonders kritisch mustert, weil Sie Emails aus arabischen Ländern bekommen, zum Beispiel.

Nicht lachen: Meine Schwester ist in Ägypten verheiratet. Ihr Sohn aus erster Ehe mit einem Franzosen ist Assistent für digitale Kryptographie an der NYU und lehrt derzeit in Tokio. Fragen Sie mal den, was ihm die US-Einwanderungsbehörde, trotz EU-Pass‘, jedes Mal für Schwierigkeiten macht, und warum. (OK, der Junge ist nicht nur ein Nerd, er sieht auch noch so aus und benimmt sich auch so, aber er trägt nicht einmal einen Bart. Ägypten reicht schon. Und seine Mutter hat ihm von dort auch noch regelmäßig Geld geschickt, für’s Studium. Höchst verdächtig.)

Aber das ist den Leuten offenbar alles völlig wurscht. Dabei sind diese Cloud Computing Arrangements ja nicht einmal per se „sicher“, sprich: Die Daten können auch so einfach hops gehen. Schönes Detail am Rande: Das Unternehmen, an das Mickeysoft das Cloud Computing Service „Sidekick“ für US-Kunden des Timob ausgelagert hat, heisst Danger. Das sind die Jungs, von denen es eine Zeit lang hieß, sie hätten alle Daten ihrer Kunden einfach versenkt.  Inzwischen ist angeblich davon wieder was aufgetaucht (sprich: Der admin hat ein tape gefunden) aber ein recover bleibt weiterhin höchst fraglich (sprich: Das tape lässt sich bislang nicht initialisieren.)

Und bevor die Apple Fanboys pöppelwitzig werden: In Cupertino kann man das auch. Und zwar gleich per Betriebssystem. Wer’s nicht glaubt, kann es ja hier nachlesen.

Man könnte sich noch weiter alterieren. Zum Beispiel darüber, wie man der supranationalen Vernetzung mit supranationalen politischen Initiativen gerecht werden könnte. Oder wie man sowas in nationales Recht umsetzen könnte, und ob das überhaupt geht. Und wie weit eine Familienministerin davon überhaupt etwas verstehen muss, bevor sie bescheuerte Gesetzesanträge vorlegen darf. Zum Beispiel. Aber Onkel Schwesterwelle wird das ja jetzt alles richten, zumindest steht das so in seinem Parteiprogramm. Ach so, er kann nicht Englisch. Wurscht, muss man ja heutzutage nicht.

Ich schweife ab, ich bitte um Verzeihung, aber manchmal geht es mit mir durch.

Man könnte auch einfach darüber nachdenken, wie lange persönliche Daten im Netz gespeichert werden, zum Beispiel, und was das für Folgen haben könnte. Wer weiß schon, wie peinlich es unseren Kindern einmal sein wird, wenn sie dreißig Jahre später immer noch nachlesen können, auf wen sie mit fünfzehn soooo gestanden sind, und was da alles an scheinbaren Intimas hervorquoll. Vielleicht wird es ihnen auch nicht peinlich sein. Vielleicht wird die Gesellschaft gelernt haben, mit der digitalen Revolution ebenso umzugehen wie mit der weltweiten Veröffentlichung privater Tagebücher, wird sich neue politische, juristische und gesellschaftliche Regeln erstellt haben, um mit dem Paradigmenwechsel demokratisch umgehen zu können. Vielleicht färbt ja die digitale Basisdemokratie der Nerds tatsächlich ab. *aufwach*

In der Zwischenzeit werde ich, glaube ich, der besten aller Ehefrauen einen Eierfön kaufen. Und selber für das entsprechende rsync sorgen.

Warum der Opel-Deal von Magna völlig irreal ist.

Wenn ich das alles richtig verstanden habe, was sich in letzter Zeit um Opel abgespielt hat, läuft es so: General Motors macht Pleite, wegen grundsätzlich verfehlten Geschäftsmodells, und aus der Konkursmasse löst der deutsche Staat um 4,5 Milliarden Euro Steuergeld den Opel-Konzern heraus und verschenkt ihn an einen Lieferanten, im Konsortium mit einer russischen Bank, unter der ausdrücklichen Bedingung, genau *dieses* schief gegangene Geschäftsmodell unter keinen Umständen auch nur um ein Jota zu ändern.

Oder hab’ ich irgendein grundsätzliches Detail übersehen?

Ich schreibe jetzt seit einem Vierteljahrhundert über Autos, und seit meinen ersten Gehversuchen als Motorjournalist erzählt man mir von Überkapazitäten in der Industrie.

Will heißen, es könnten mehr Autos auf vorhandenen Fertigungsanlagen erzeugt als tatsächlich verkauft werden. Und weil die installierte, aber nie ausgenützte Kapazität Kapital bindet, sprich Kosten erzeugt, könnte man Autos deutlich billiger bauen, wenn man diese Überkapazitäten reduziert.

Industrieschnitt ist rund 20 Prozent, bei Opel dürfte die Überkapazität bei rund 50 Prozent liegen. Außerdem liegen die Opelwerke in Ländern wie Deutschland und Belgien und Spanien, lauter bekannten Billiglohnländern, während die Automärkte der Zukunft in Asien sind, wo man ja bekanntlich viel teurer Autos baut als in Bochum.

Ich mein’, sooo schiach sind Opelmodelle dann tatsächlich nicht, obwohl sie nie das Image des schnarcharschigen Spießers losgeworden sind („Opelfahrer mit Hut“, beliebig erweiterbar mit Klopapierrolle/Wackeldackel/Kommgutheimpolster). Egal, irgendwie hat es am Ende nicht gereicht, und jetzt ist man in der Konkursmasse. Und wütende Opelarbeiter hätten im deutschen Wahlkampf ein schlechtes Bild gemacht, also musste etwas unternommen werden.

Ach ja, neben Belgiern und Spaniern waren auch Reste der einst stolzen britischen Automobilindustrie in Form von Vauxhall beteiligt. Aber alles in allem war der Deal dann doch eine rein deutsche Sache, das schien von Anfang an klar. Jedenfalls haben jetzt auch wir Österreicher wieder was zum Sagen in Sachen Autos, was heimische Medien mit unverständlicher Euphorie füllte, und Tante Angela hat ein Sternderl mehr im Mitteilungsheft. So viele hat sie dort eh’ nicht.

Jetzt allerdings, wo Tante Angela anderweitig Sorgen hat mit dem neuen Onkel Guido, der nicht Englisch reden mag, kann man sich die Sache ja in Ruhe etwas näher anschauen. Und das kann richtig gruselig werden. Da fällt einem dann z.B. auf, dass in Wirklichkeit Tante Angela die einzige ist, die den Deal für formidabel hält, und das auch nur aus rein politischen Gründen. Alle – wirklich alle – anderen Beteiligten hielten und halten den Deal für schlecht. Und das will heissen, die Chancen stehen gut, dass Tante Angela gerade 4,5 Milliarden Steuergeld in den Sand gesetzt hat.

Ich meine: Selbst die beiden Vertreter der deutschen Bundesregierung im Aufsichtsrat der Opel-Übergangsverwaltung haben gegen den Deal gestimmt, einer von ihnen, Manfred Wennemer, begründete das lapidar: „Ich frage mich, wie Opel überleben will.“ Deutlicher kann man das nicht sagen, ohne unhöflich zu werden.

Kern des Deals ist: die deutsche Regierung gibt 4,5 Milliarden Euro Steuergeld, und Magna verpflichtet sich dafür, nicht einen Arbeitsplatz in Deutschland zu streichen. Die beiden anderen Bieter hatten das glattweg abgelehnt. Sergio Marchionne von Fiat sprach ganz im Gegenteil aus, was sich die ganze Branche denkt: Rund die Hälfte aller Arbeitnehmer bei Opel müssen gehen, sonst geht sich das nicht aus. Das hat dann schon gereicht, um ihn bei Tante Angela unten durch fallen zu lassen. Und der Finanzkonzern RHJ war ja nur ein Versuch, die Opelanteile irgendwo zu parken, bis ein wieder erstarkter GM-Konzern sie zurückkaufen kann. Auch dieser Plan wurde von Tante Angela rüde zurückgewiesen, die versprochenen 4,5 Milliarden gäbe es nur, ließ sie ausrichten, gegen die Arbeitsplatzgarantie. Und keinesfalls für GM selber, egal unter welchen Bedingungen, hieß es hinter den Kulissen.

Nun ist er durch, der Deal, und es werden immer absurdere Details bekannt. So haben sich die Vertreter der deutschen Regierung bei Kollegen in Belgien und Spanien erkundigt, ob man dort interessiert sei daran, für zukünftige Opel-Magna-Arbeitsplätze ein bisserl zu den 4,5 Milliarden Subvention beizutragen. Die Kollegen antworteten postwendend, gegen ähnliche Arbeitsplatzgarantien sei man dem gegenüber nicht abgeneigt. Am liebsten wäre allen, es würde einfach so weitergehen wie früher, und keiner müsste gekündigt werden. Nur: Wenn das vorher schon nicht ging, warum soll das nach der Pleite plötzlich gehen? Weil das die Deutschen so wollen? Das wird nicht reichen.

Insider sprechen davon, dass es seit je her zu Frank Stronnachs stillen Träumen gehöre, auch einmal eine echte Automarke zu besitzen. Ob das ausreicht, darf ebenfalls bezweifelt werden. Opel hat in den letzten Jahren selbst in seinen Kernmärkten Mitteleuropa an Marktanteil verloren, an Volkswagen in Deutschland, an Ford in Großbritannien, es ist nicht einmal sicher, ob es Opel überhaupt noch einmal schaffen kann, selbst wenn man dort die halbe Belegschaft kündigt. Aber so … schon haben zwei Magna-Hauptkunden, BMW und Volkswagen, laut darüber nachgedacht, nicht mehr beim nunmehrigen Konkurrenten arbeiten zu lassen. Und GM, in den USA blitzartig durch ein Insolvenzverfahren gezerrt und nunmehr, schuldenbefreit und neu gegründet, back in business, überlegen öffentlich, wie man den drohenden Know-how-Abfluss via Sberbank an deren Partner, den russischen Automobilkonzern GAZ, verhindern könne.

Aber es bleiben alle Arbeitsplätze erhalten.

Der britische Economist spricht von schweren Verstössen gegen europäisches Recht, erwähnt, dass Brüssel dem Deal noch lange nicht zugestimmt habe, und meint im Leitartikel dazu: Unter dem „allmächtigen Einfluss des Opel-Zentralbetriebsrat Klaus Franz“ habe die deutsche Regierung wohl „den Blick auf die industrielle Realität“ verloren. Das ist aber hübsch formuliert.

Nun könnte man das Ganze ja auch für eine der üblichen Steuergeld-Vernichtungsaktionen ansehen, mit denen sich Politiker allerorts ihr Überleben erkaufen, weil die Rechnung immer die nächste oder – mit Glück und wenn man noch eine Wiederwahl gewinnen will – die übernächste Regierung zahlt.

Schon möglich. Ich habe da meine eigene Theorie dazu.

Unter den gegebenen Umständen wäre es wirtschaftlich am klügsten gewesen, Opel einfach pleite gehen zu lassen, wie Mutter GM. Dann wäre man all die lästigen Arbeitsverträge elegant los geworden, und Opel, in Verbund mit einer neuen GM oder einfach an einen Dritten mit Pütt und Pann verkauft, hätte reelle Überlebenschancen.

Das war politisch nicht drin. Also macht man was (politisch) Kluges: Man schenkt den Arbeitgebern – statt ihrer finanziellen Ansprüche – einfach einen Anteil an der Firma, und wenn die dann den Bach runtergeht, dann sind die Arbeiter selber dran schuld, weil ja als Eigentümer mit verantwortlich.

In den USA gehören die neuen GM jetzt ja auch mehrheitlich den Fonds jener Arbeiter, deren Krankenkassen- und Pensionsforderungen die alte GM in die Knie gezwungen hatten. Also hält jetzt die neue, quasi mehrheitlich arbeitereigene GM 25 Prozent an „Opel Neu“, 20 Prozent bekommen die Opel-Arbeiter, die restlichen 55 Prozent gehen an das Magna-Sberbank-Konsortium, die dürfen das jetzt endgültig in den Boden fahren.

Selbst die Sberbank bekommt schon erste kalte Füße und überlegt öffentlich, ihren Anteil am Deal möglichst schnell wieder los zu werden.

Aber Tante Angela hat die Wahl gewonnen.

Abschließend lässt man noch schnell ein Gutachten erstellen, das dem Konzept der Austro-Kanadier „erhebliche Risiken” bescheinigt und den Sanierungsplan als „nicht besonders robust“ bezeichnet, dann ist man auch aus dem Schneider, wenn es denn schief geht. Oder so ähnlich.

Wenn die Russen so zu neuester deutscher Automobiltechnologie kommen, hätte ja selbst das schon Tradition: Nach dem Krieg erzeugte GAZ den Moskwitsch viele Jahre lang nach den Plänen von Opel, die die Rote Armee 1945 in damaligen Nazideutschland beschlagnahmt hatte.

Die Dummen dabei sind, in Reihenfolge, der deutsche Steuerzahler, den der Spaß 4,5 Milliarden plus Zinsen (mindestens) kosten wird; die Arbeiter in den Opelwerken von Spanien, Belgien, England und Deutschland, die ihre Jobs so sicher zur Gänze verlieren werden; und wir Österreicher, weil sich wieder einmal einer von uns weltweit blamieren wird. Schließlich hat Frank Stronnach bei den Verhandlungen, vor allem gegenüber den Deutschen, immer wieder seine österreichische Abstammung herausgehängt. Na ja. There’s a sucker born every minute. Die Börse jedenfalls honorierte den Deal mit deutlichen Kursverlusten.

Wer weiß: Vielleicht ist das ganze ja nur eine weltweite Verschwörung, uns Ösis wieder einmal als die Superdoofen darzustellen. Zuzutrauen wäre es ihnen ja … *duckundweg*

Wie Steve Apple Inc. rettet, indem er den Mac tötet.

„Steve is back!“ Ein Raunen geht durch die Reihen, denn der tot geglaubte Prophet einer schönen neuen Computerwelt ist wieder da: Spindeldürr, aber sichtlich gesund und bestens gelaunt, tanzt der Robin Hood der Desktops im jüngsten Podcast aus San Francisco über den kratzfesten Touchscreen. Trotz Krise und Lebertransplantation will der Magier des Marketing Apple Inc. weiter in lichte Höhen führen, als nächstes soll der Markt der Minicamcorder aufgemischt werden. „Das ist ein großer Markt“ lässt Steve seinen Statthalter Phil Schiller die Einzelheiten erläutern, da will man auch ein Stück vom Kuchen haben, und ein nicht zu kleines, bitteschön.

Cisco, mit Intel und Microsoft einst das Dreigestirn der Digitalen Zukunft, twitterte noch am selben Abend: „Imitation ist das ehrlichste Kompliment.“ Der weltgrößte Hersteller von netztechnischer Hardware hat vor wenigen Monaten Pure Digital übernommen, das seinerseits mit der Flip-Videokamera in den USA den Hosentaschen-Camcorder salonfähig gemacht hat, der angedrohte Angriff der Äpfel scheint bedrohlich.

Die Zahlen sind beeindruckend: Dreissig Millionen Eierföhne in den ersten zwei Jahren verkauft, 73 Prozent Marktanteil in den USA für den iPod, der iStore im neuen Design und „der mit Abstand größte Music Site der Welt“, mit alleine zwei Milliarden Downloads nur für meist sinnfreie Eierföhn-Zusatzprogrämmchen – da kann man echt nicht meckern.

Wäre ich Investor und hätte Aktien von Apple, ich wäre hoch zufrieden. Bin ich aber nicht. Ich bin ein einfacher Apple-User. Und mir fällt auf, dass Steve auf seinem Weg in die schöne neue Apfelwelt immer wieder Prinzipien aufgibt, die dereinst die Eckpfeiler des Apple’schen Selbstverständnis waren. Und das macht mich dann doch ein wenig nachdenklich.

Um das genauer zu verstehen, machen wir jetzt einen klitzekleinen Ausflug in die Technik.

Dereinst, als das Ganze los ging, waren Computer irgendwelche Riesenkasteln, die man mühsam mit Lochkarten fütterte und die als Antwort lange Papierschlangen ausspuckten, zu deren Interpretation man eine eigene Ausbildung benötigte sowie den Stromverbrauch einer mittleren Kleinstadt.

Dem gegenüber stellten die zwei Studenten Steve Jobs und Steve Wozniak ihr Konzept des „Personal Computer“, auf dem man per Tastatur und in normaler Umgangssprache seine Eingaben machen konnte, und der per Bildschirm für jeden DAU verständliche Antworten gab. Der Rest ist Geschichte, die sparen wir uns hier, schließlich sitzen Sie gerade jetzt vor so einem Kastl, geneigte Leserin und geschätzter Leser, das erklärt ja wohl alles.

Schon damals zeigte Jobs seine geniale Fähigkeit, Konzepte anderer Leute einfach zu übernehmen und sie anschließend so zu präsentieren, dass man ein völlig anderes, neues, ganz revolutionäres Produkt sieht. Das macht Herrn Jobs zum absoluten King of Marketing, zum Halbgott des Rebranding und zum Genius des Repackaging. Niemand sonst hätte uns die einfache Mix-Funktion jedes CD-Players als völlig neues Feature verkaufen können (und wäre anschließend damit auch noch durchgekommen.)

Egal. Der erste „Mac“ war jedenfalls eine Sternstunde der Digitalen Revolution, und das hatte auch viel mit der Art zu tun, wie man mit einem Mac von Anfang an seine Arbeit strukturieren konnte, etwas was die Fachleute gerne den „Workflow“ nennen.

Ein Beispiel aus meiner täglichen Arbeitswelt:

PostScript ist eine Seitenbeschreibungssprache, also eine Art Code, mit dem man genau festlegen kann, wie etwas aussieht, das auf Papier (oder dem Bildschirm) erscheint: Dort steht das Bild, hier der und der Text, in der und der Schrift, so und so gesetzt, blahfasel. Weil das nur ein paar Formeln sind sowie ein bisserl Text, statt Pixel für Pixel das ganze Bild, sind diese Dateien wesentlich kleiner und daher sehr beliebt in der Druckerwelt, sprich: PostScript ist dort Standard.

Jedes anständige Grafikprogramm kann daher solche „Encapsulated PostScript“-Dateien erzeugen, als Dateisuffix haben sie immer „.eps“.

Wie wir wissen, ordnet so ein Compi über diese Extensions die jeweiligen Dateien einem Anwendungsprogramm zu, so dass man einfach auf die Datei klicken kann, dann geht sie im entsprechenden Programm auf.

Nur: Windows konnte (und kann bis heute) eine Extension nur jeweils einem Programm zuordnen.

Schon im ersten Mac-OS war das anders. Dort konnte man jede Datei einzeln oder gruppenweise jeweils verschiedenen Programmen zuordnen. Statt der DOS-üblichen Extension werden dabei so genannte „Metadaten“ gemeinsam mit der Datei gespeichert.

Zurück zur Praxis: Obwohl alle Encapsulated PostScript-Dateien hinten .eps heißen, kann man beim Mac einfach draufklicken, und sie gehen mit dem Programm auf, mit dem sie erzeugt wurden. Und weil ein Photoshop-EPS was anderes ist als ein Illustrator-EPS, oder Gott bewahre ein XPress-EPS oder ein InDesign-EPS, ist das auch gut so und macht das Arbeiten auf dem Mac übersichtlich und einfach.

Unter Windows geht jedes EPS mit dem Programm auf, das der Extension .eps zugeordnet ist. Defaultmäßig ist das meist Illustrator. Und wenn man das nicht will, muss man jedes Mal ->Rechtemaustaste ->öffnen mit ->wo ist denn jetzt das blöde CS? spielen, das ist mühsam, zeitraubend und öd, und daher unbeliebt.

Das ist nur eines der Beispiele, wie genial durchdacht das Mac-OS von Anfang an war, und wie klobig und unhandlich dagegen so ein Mickeysoft-Gedrödel immer war.

Zurück zur Realität: Nach jüngsten weltweiten Zahlen hat das klobige Gedrödel 93,4 Prozent Marktanteil weltweit bei Desktop Computern, Mac OS hat vierkommasechs, die restlichen Punkterln teilen sich alle Anderen, also sämtliche Distributionen von Linux und Unix und SunOS und HP-UX und FreeBSD und wasweißichnochalles, die meisten davon weit unter der statistischen Wahrnehmungsgrenze.

Sie erinnern sich noch an die Schlachten der Videoformate VHS und Betamax? Betamax war technisch eindeutig besser, dennoch gewann am Ende VHS, dank besserer Distribution, besserem Marketing und klügerer Lizenzpolitik, haushoch. Und wir hatten deutlich besch(zenziert) Videos, bis zur Einführung von HD-TV. So ähnlich ist das halt auch bei Betriebssystemen von Computern, und deshalb sieht die Welt so aus, wie sie aussieht.

Nun muß man auch einräumen, dass alle anderen Erzeuger kleiner schlauer PC, ausser eben Apple und der allmächtige Wintel-Gigant, in der Zwischenzeit geräuschlos verschwunden sind. Atari? Commodore? Wang? (Wer bitte? Ja, die gab’s auch mal.) Und dass es an ein Wunder grenzt, dass es Apple noch gibt, und dass sie tatsächlich PC erzeugen und hoch aktuell verkaufen, die sich deutlich vom Wintel-Standard unterscheiden, und meist die technisch feineren, eleganteren Lösungen haben, weil eben niemand so genial klauen kann wie Steve.

Nun haben sie Steve bei Apple ja schon mal rausgeworfen, dann ging man so gut wie Pleite, dann gab M$ finanzielle Hilfe und Steve kam zurück, seither geht es steil aufwärts. Das erklärt den halbgottähnlichen Status von Steve Jobs, nicht nur bei den Fanboys, sondern auch bei der Konkurrenz.

Was dabei nicht so auffällt, ist die Tatsache, dass Steve diesen Aufstieg seit seiner Rückkehr an das Steuer des Obstschiffes de facto mit der stückweisen Aufgabe des Apple’schen „anders sein“ bezahlt hat.

Jüngstes Beispiel ist das neue Release des Apple Betriebssystems Mac OS X 10.6.1 „Snow Lepard“. Dort ist die klassische, „creator code“ genannte Bindung einer Datei an ein bestimmtes Anwendungsprogramm von Apple selbst aufgegeben worden, zu Gunsten der Windows-üblichen Methode der Identifizierung via Extension. Gerüchteweise gegen den Widerstand der Coder, und auf ausdrücklichen Wunsch Seiner Majestät.

Will heissen: So wie es derzeit aussieht, werden wir ab Schneeleopard auch bei jedem EPS-File das Rechte-Maustaste-Spiel spielen, *seufz* und dafür wieder ein Stück kompatibler zu den 94 Prozent der restlichen Welt sein.

Scheiss Globalisierung.

Wer’s im Detail wissen will, kann es hier nachlesen.

Jedenfalls wird das Betrübsystem meiner Äpfelchen mit jedem Release den jeweiligen Windoze-Systemen ähnlicher. Schon heute lässt sich ein Programm wie CS von Adobe nicht mehr rückstandsfrei von einem Mac entfernen, es sei denn, man weiß genau, wo Adobe welche Dateien wie hinlegt, und selbst das ändert sich von Release zu Release. Auf OS 9 gab’s dafür zwei Ordner, auf dem BSD, das unter OS X werkelt, gibt es in klassischer UNIX-Tradition dafür mindestens zwanzig, und wenn es einer Applikation gefällt, dann legt sie auch noch zwei weitere an. Früher™ war das anders, und Apple hielt die Prinzipien hoch und zwang die Entwickler, sich dem System zu beugen; aber damals war damals, und heute ist heute, und Steve verdient sein Geld mittlerweile anderweitig.

Nicht von ungefähr hat Steve vor ein paar Jahren das Wort Computer aus dem Unternehmensnamen entfernen lassen, Apple Inc. wird weiterhin wachsen und Geld verdienen und uns mit schicken Must-haves beglücken, und wahrscheinlich werden die PC einfach deshalb weiter gut gehen, weil ihr Coolnessfaktor nach wie vor unübertroffen sein wird, dank Steve’s Genialität und so lange der Vorrat an Organspendern nicht ausgeht. *scnr*

Und irgendwann wird uns gar nicht mehr auffallen, ob da gerade OS X oder Windows Seven läuft, auf unserer todschicken, überteuerten Hardware mit dem unüberbietbaren Kühlheitsfaktor.

Ach ja, und was die EPS-Dateien betrifft: Das hat mittlerweile Adobe *spuck* längst mit seinem portable document format erledigt.

Vor dem Supermarkt

Die Welt ist voller Proleten. Nein, ich will mich nicht beschweren, das wäre sinnlos. Aber manchmal möchte ich wenigstens meinen Ärger darüber loswerden. Können. Dürfen.

So zum Beispiel gestern. Da war ich in Grohote einkaufen.

Vor unserem Supermarkt in Grohote auf meiner geliebten Insel Šolta gibt es – genau vor der Tür – drei Parkplätze. Im Laufe der Jahre hat sich das als eindeutig zu wenig erwiesen, also hat man gegenüber einen großen Parkplatz gebaut, auf dem mehr Autos Platz haben als Kunden auf einmal in den kleinen Studenac hineinpassen. Aber da muss man über die Gasse gehen und, wenn man Pech hat, auch noch über den ganzen Parkplatz. Wenn man direkt vor der Tür parkt, muss man das nicht. Daher ist um ebendiese Plätze immer ein G’riß.

Im Sommer, halt. Im Winter, so wie jetzt, ist es meist wurscht, außer an einem Freitag abend bei schönem Wetter, da kommen alle Weekender einkaufen, als käme es ab Samstag aus der Mode. Warum die extra bei uns, bei teureren Preisen und reduziertem Angebot, einkaufen statt auf dem Festland, wo sie eh’ gerade herkommen, wird sich mir wahrscheinlich nie so ganz erschließen, aber chacun à sa façon.

Egal, gestern war Dienstag, und es ist tiefer Winter, also waren alle drei Parkplätze vor der Tür frei. Ich, spießiger Mitteleuropäer aus dem Norden, stelle mich ganz rechts hin, damit noch zwei weitere Platz finden, so denn überhaupt welche kommen.

Außerdem bin ich, infolge eines Risses meiner linken Achillessehne, mit einem Gips unterwegs und daher auch mit Krücken, also ist es mir ganz recht so. Sonst will wieder die nette Kassiererin meinen Einkauf für mich bis zum Wagen tragen, und dann isses mir wieder peinlich. Na, passt schon.

Friedlich gehe ich einkaufen.

Nach einer Viertelstunde habe ich eingekauft und bezahlt und das Angebot, meinen Einkauf zu transportieren, dankend abgelehnt – „Nein danke, aber ich stehe ja direkt vor der Tür“ – und trete vor die Tür, da hat doch irgend so ein [zensuriert] seinen Ford schräg hergstellt, so dass weder ein Dritter parken kann, noch ich einsteigen. Sein rechter Kotflügel ist zehn Zentimeter vor meiner Fahrertür, also selbst ohne Gipsfuß und mit zwanzig Kilo weniger … geschenkt. Hilfe suchend drehe ich mich um, vielleicht ist der Trottel eh’ schon an der Kasse, zumal zu allem Überdruss auch noch der Motor läuft und ordentlich stinkt. Und tatsächlich winkt die Kassiererin, dass sie den Fahrer gerade abfertige und er käme sofort.

Zwischenzeitlich stehe ich halt einfach dumm herum, mit meinem Einkauf und auf zwei Krücken, und jeder der mich sieht, denkt sich wahrscheinlich das selbe wie ich, Mann, parkt der vielleicht bescheuert.

Und dann kommt er, es sind sogar zwei, ein Ehepaar, sie so um die 45, er zehn Jahre älter, die Standardnummer halt. Sie versucht auf ihrer Seite einzusteigen, sieht es geht nicht, steht dann dort und schaut mich an. Dann kommt er … und ich kann meinen Mund nicht halten.

„Ist das Ihr Fahrzeug?“

„Ja“, sagt er, etwas konsterniert, „wieso?“

„Super, wie Sie parken. Wirklich rücksichtsvoll.“ Ich schaue bedeutungsvoll an mir herunter und auf meine Krücken.

Dem Proll ist es jetzt dann doch peinlich, also steigt er schweigend in sein Auto und schaut, dass er möglichst schnell wegkommt.

„Und den Motor haben Sie auch gleich laufen lassen. Sie machen wirklich alles richtig.“ Wenn ich einmal in Fahrt komme, gibt es kein Halten mehr. „Sie sollten jetzt auch noch einfach Ihren Aschenbecher auf den Boden ausleeren.“ Mit steinernem Gesicht schließt er seine Autotür und legt den Rückwärtsgang ein.

Und dann, als das Auto schon rückwärts rollt, kommt seine Frau wieder in mein Blickfeld. Sie sitzt neben ihrem Ehegatten und für einen Augenblick treffen sich unsere Blicke.

Und dabei hat sie gegrinst. Von einem Ohr zum anderen.

Die Inseln unter dem Wind. Eine Reise, ein Besuch und eine Rückkehr.

Wer auch immer den Satz erfand „Neapel sehen und sterben“ hatte keine Ahnung. Nun bin ich schon seit mehreren Stunden hier, und von Sterben keine Spur. Allerdings ist es so heiss, dass das langsam echt eine Alternative wäre.  Der Charme des Bahnhofes ähnelt dem aller Bahnhöfe. Nur an einem Ende der Halle steht ein verrostetes Stützgerüst gegen die Decke gepölzt. „Das Erdbeben, signore … “ zuckt man die Schultern. Welches Erdbeben, will man fragen. Ach, suchen Sie sich eins aus. Diese Leute aus dem Norden …

Ich fahre auf eine Insel ohne Strassen und folgerichtig per Bahn und Schiff. Ich liebe geruhsames Reisen, ich liebe die Bahn und ich finde Schiffsreisen romantisch. Spätestens als ich meinen Rucksack durch die neapolitanische Mittagshitze schleppe, beginne ich an meiner Liebe zu zweifeln. Egal. Der Hafen riecht nach Seetang, Dieselöl und der grossen weiten Welt.

Wonach das Schiff riecht, das uns nach Lipari bringen soll, kann ich beim besten Willen nicht definieren. Einmal in Bewegung, vertreibt der Fahrtwind die interessante Geruchskombination aus hundert Jahre nicht waschen und einem südserbischen Bahnhofspissoir, die kleine Fähre stampft friedlich nach Südwest, vom Vorschiff steigen Fetzen von Essensgerüchen in den Abend und ich bin mit mir selber und der Welt wieder versöhnt.

Anderntags, fünf Uhr früh. Die Nacht war lausig, ich stehe durchfroren an Deck. Ein graulila Dunstschleier liegt über dem Wasser, es herrscht das, was die Franzosen den „kleinen Morgen“ nennen. Kalt, müde, hungrig. Automaten, selbst italienische, brauen einen erbärmlichen Kaffee.

Und dann, schräg rechts, taucht plötzlich eine Insel auf. Ein spitzer schwarzer Kegel, das obere Drittel in eine dichte schwarze Wolke gehüllt, speit orangerotes Licht, kleine Flammenzungen fressen sich in die Wolke. Gleichzeitig beginnen die ersten roten Sonnenreflexe auf tausend kleinen Wellen zu tanzen, flirrendes Licht flutet über den Horizont. Und dann, sozusagen als Krönung der Sache, zucken auch noch Blitze durch die Wolken um den Gipfel, und ferner Donner grollt zu uns  herüber. Gott strafe mich, so war es und ich habe nichts dazu erfunden: Ein Gewitter über Stromboli bei Sonnenaufgang. Der Anblick entschädigt für dreissig Stunden Anreisezeit, Gerüche, Hitze, Kälte und miesen Kaffee. Jawohl, genau hier müssen die Burschen die Oper erfunden haben, anders ist das gar nicht möglich.

Als der Gott Vulkanus seine Esse im Vesuv bei Neapel baute, schüttete er das übrig gebliebene Baumaterial einfach in den Hinterhof. Und dort liegt es heute noch: Sieben winzige, steile Felskegel, die auf halbem Weg zwischen Neapel und Messina aus dem azurblauen Wasser ragen, abseits der restlichen Welt, inmitten des Tyrrhenischen Meeres: Die Aeolischen Inseln, auch Liparische Inseln oder Inseln unter dem Wind genannt. Die Fischer und Matrosen nennen sie die „sette sorelle“, die sieben Schwestern.

Der österreichische Erzherzog Ludwig Salvator, geboren in Mailand, aufgewachsen in Prag, grossherzoglicher Sohn aus der Toscana und Zeit seines kurzen Lebens ruheloser Wanderer auf den sieben Weltmeeren, kam erstmals 1887 hierher. Ursprünglich wollte er ja grossherzoglicher Beamter werden, doch das verwehrte man ihm im Grossherzogtum Toscana, aus innenpolitischen Gründen, die schon damals ziemlich dumm gewesen sein dürften, denn Ludwig Salvator wäre ein ausgezeichneter Beamter geworden. So wurde er Seefahrer, und auf allen seinen Fahrten schrieb er säuberlich alles auf, wie viele Einwohner die und die Insel hätte, wie viele Kinder, wie viel Post jährlich hierher komme und derartiges. Wie gesagt, ein vortrefflicher Beamter.

Eigentlich war der Erzherzog unterwegs nach Ibiza, wo es ihm die Burgen auf Lanzarote angetan hatten, aber es gefiel ihm auf Lipari ausserordentlich gut, also blieb er ein Weilchen. Schliesslich hetzte ihn ja kein Fahrplan. Er blieb und notierte, säuberlich. 1894 erschien in Prag bei Heinrich Mercy ein achtbändiges Werk: „Die Liparischen Inseln“, ohne Autorenvermerk. Je Insel ein Buch, plus ein allgemeines. Jedes Haus, jede Kapelle, jedes Schiff im Hafen säuberlich vermerkt. Im allgemeinen Einführungsband schrieb er: „Der Charakter der Liparoten ist sanft und gutmüthig; vollkommen sicher kann der Fremde unter diesem gefälligen, heiteren, fröhlichen Völkchen, das schnell sein Herz gewinnt, dahinwandern und bald wird es ihm unter den Leuten gefallen und er wird sich wie zu Hause fühlen.“

Ich bleibe nicht auf der Hauptinsel Lipari, sondern fahre weiter nach Alicudi, der letzten und kleinsten der sieben Schwestern, weit draussen im Westen. Ohne Strom, ohne Strassen und Autos, ohne Anlegemole. Wer hier aussteigt, muss über die schwankende Reling in ein kleines Fischerboot klettern, das zwei schweigende Männer vom Ufer herübergerudert haben.

Ebenso schweigend rudern sie wieder zurück. Hinter uns verschwindet das Fährschiff, vor uns steil, menschenleer, windzerfressen, sonnengebrannt, winzigklein: Die Insel. Ausser mir steigt niemand aus. Das hätte mir zu denken geben sollen.

Die Hänge sind mit schmutzigweissen Häusern besprenkelt. Beim Näherkommen sind alle zerfallen, leere Fensterhöhlen starren in den blauen Himmel. Nur unten, wo das Boot jetzt anlegt, sehen ein paar Häuser bewohnt aus.

Die Insel ist vom Ufer an bis zur Spitze des steilen Vulkankegels, rund dreihundert Meter höher, mit winzigkleinen, schmalen Terrassen überzogen. Seit Jahrtausenden haben hier Menschen gewohnt, haben dem steilen, aber fruchtbaren vulkanischen Boden ein karges Lneben abgerungen, haben bis auf den Gipfel, Stein für Stein, mit der Hand Stiegen angelegt und Regenzisternen, haben Terrassen gebaut und Erde in Körben hinaufgeschleppt, um Paradeiser, Ölbäume und Kapern zu ziehen.

Als der Erzherzog hier unter dem freundlichen Völkchen weilte, ernährte die Insel über zweitausend Seelen. Heute leben hier knapp fünfzig.

Die Wege sind mannshoch zugewachsen mit Dornengestrüpp, die Zisternen verfallen und leer, auf den Terrassen steht kniehoch verdorrter wilder Hafer.
Als um die Jahrhundertwende die Dampfschiffe von Messina nach Neapel zu fahren begannen, kamen plötzlich die kleinen Segelschiffe nicht mehr, mit denen die Liparoten ihre Oliven und Kapern verschickten. Gleichzeitig raffte die Ölbaumpest einen Grossteil der Bäume hinweg, eine ökonomische Katastrophe brach über die Inseln herein. In der Dekade bis zum ersten Weltkrieg wanderte so gut wie die gesamte Bevölkerung aus, hier auf Filicudi und drüben auf Alicudi, auf Panarea und Vulcano. Manche nach Argentinien, manche nach Australien, die meisten in die USA.

Toni Umina kommt aus Pipe Creek, Texas, und wenn er mit mir redet, merkt man das auch deutlich. Aber wenn Tony unter den wenigen Männern der Insel sitzt, sieht er aus wie einer der ihren. Er spricht auch noch den Dialekt der Insel, obwohl er schon im Amerika geboren ist; dort hat er ihn von seiner Grossmutter gelernt, die zeitlebens nichts anderes sprechen konnte: Ein wenig Spanisch, ein wenig Arabisch, ein wenig Sizilianisch und ein wenig Napoletanisch, ein paar griechische Worte sind auch dabei, die waren nämlich auch hier, und dazu den weichen, singenden, süditalienischen Tonfall. Wunderschön. Ich verstehe kein Wort.

Tony schon, er übersetzt für mich. Sein Grossvater hat hier noch Haus und Grund besessen, bevor er nach Amerika ausgewandert ist. Als sein Grossvater in New York ankam, erzählt mir Tony am Abend, suchte er das Gold, mit dem in Amerika die Strassen gepflastert sein sollten, so wie man es sich in den schäbigen kleinen Bauernkaten von Alicudi erzählte. Und so kniete nach seiner Ankunft der Grossvater vor dem Laden seines Cousins in Brooklyn fassungslos auf dem Pflaster und konnte es nicht begreifen, dass der Boden hier auch nur Staub und harte Steine war, so wie zu Hause.

Zu Hause war für die Grossmutter, die Tony erzog, immer die alte Heimat. Zu Hause war alles schöner, ärmer, reiner. Also ist Tony heute wieder da, um das alles zu finden. Ausserdem ist Tony Grundstücksmakler, ein ziemlich reicher sogar. Und die alten Gründe, über hundert Jahre völlig wertlos, sind heute plötzlich wieder etwas wert: Reiche Norditaliener kaufen im Süden nur mehr Grundstücke auf, auf denen schon alte –  möglichst verfallene – Häuser stehen. Weil sonst gibt es nämlich keine neuen Baugenehmigungen und Umwidmungen, offiziell zumindest. Im Grundbuch in Messina war Tony auch schon. Die Leute, die dort als Besitzer eingetragen sind, sind fast alle seit mehr als einem halben Jahrhundert tot. Und wem es heute gehört, weiss sowieso niemand. Dio mio, signore, wen kümmert schon Land auf Alicudi …

Tony kümmert das, er wittert ein Geschäft, er vertritt eine Gruppe von 50 oder mehr Kindern von Auswanderern, die alle hier irgendwo noch Landansprüche haben. Die Inselbewohner wittern es auch, und ausserdem ist man hier auf Auswanderer nicht gut zu sprechen. Tony hat lange Listen in Messina kopiert, die Linien in den Gesichtern werden hart, wenn die Männer am Abend in der einzigen taverna miteinander reden, und die Alten haben plötzlich wieder ein erstklassiges Gedächtnis.

Es ist die Welt im kleinen, ein Mikrokosmos, getränkt von Misstrauen, begrenzt vom schmalen Strich zwischen blauem Himmel und blauem Meer, auf dem die Schiffe langsam sichtbar werden, lang bevor sie anlegen. Dort sind auch die Auswanderer verschwunden, vor hundert Jahren, und wieso kommen sie jetzt zurück, zusammen mit anderen Fremden, die auch keiner will?

„Wenn Du hier auf der Insel etwas unternehmen willst,“ sagt Giovanni, der Kaschemmenwirt, Krämer, Postbote und Schiffskartenverkäufer der Insel, „musst du eine Gruppe mit einer ungeraden Zahl bilden. Die Zahl muss unter drei liegen.“ Und dann putzt er ostentativ den Sessel, auf dem ich gerade gesessen bin.

San Bartolomeo ist ein kleiner Weiler, ungefähr eine Wegstunde steil über die Westflanke, knapp unter der Spitze der Insel. Das einzige noch intakte Gebäude ist die Kirche. Das letzte Erdbeben hat die Spitze des Kirchturms grotesk verschoben, das nächste wird ihn wahrscheinlich zum Einsturz bringen. Im verlassenen Pfarrhaus daneben zwei winzige Zimmer, gestampfter Lehmboden, grobe, weiss gekalkte Wände, ein altes Metallbett mit bemaltem Haupt, ein Metallkreuz an der Wand. Ich sitze auf einer halb verfallenen kleinen Steinterrasse und starre auf das Meer hinaus.

Nach drei Tagen fällt mich die Einsamkeit an wie ein Tier. Eigentlich wollte ich ja zwei Wochen bleiben, aber wenn ich hier nicht morgen mit dem Schiff wegkomme, dann werde ich auf der Stelle verrückt.

Das Schiff ist die einzige Verbindung zur Aussenwelt und kommt laut Fahrplan jeden Tag. In Wirklichkeit kommt es, wenn es das Meer zulässt. Oder der Wind. Oder die Götter. „Einmal öfter, dann weniger oft“ sagen die Einheimischen und zucken mit den Schultern. Wen kümmert schon, wann das nächste Schiff kommt. Diejenigen, die hier weg wollten, sind schon lange weg.

Am nächsten Tag kommt kein Schiff. Am übernächsten auch nicht. Und als es dann doch kommt, ist mein Inselkoller schon vorbei.

Ich sitze am Abend unten am Meer und lasse das Dunkel der Nacht langsam auf mich herunterfallen, wie schwarzen Samt. Kein Licht ist zu sehen, nur die Sterne funkeln. Irgendwo spielen Fischer eine Partie Scoppa, ein sizilianisches Kartenspiel mit den Spielfarben des ägyptischen Zigeuner-Tarots: Schwerter, Stäbe, Kelche und Taler. Der Wind weht Sprachfetzen durch die Nacht, über allem das Rauschen des Meeres. Immer rauscht das Meer, es gibt auf der ganzen Insel keinen Ort, an dem man das Meer nicht hört.

„Salute“, sagt Tony und schiebt mir ein Glas mit Rotwein zu.

Mugello oder Wie man Motorrad fährt, ohne Motorrad zu fahren.

Und es begab sich, dass die beste aller Ehefrauen in Zürich zu tun hatte, und ich sollte sie begleiten. Genauer gesagt in Olten. (Was ist Olten? Die grösste Stadt in Solothurn, aber nicht die Hauptstadt. Was ist Solothurn? Ein Kanton, Soleure auf Französisch. Wie bitte? Vergiss es – Olten ist ein Kaff in der deutschen Schweiz.) Jedenfalls hatten wir dafür sechs Tage Zeit, denn man kam, um Haus und Katzen auf der Insel zu hüten, also zogen wir aus von Split in die Schweiz.

Leider bedeutet das in Wirklichkeit rund 3000 km, also nahmen wir das Dieselschlachtschiff, obwohl wir uns schon auch ernsthaft die Triumph überlegt hatten. Aber wer von Split nach Olten und zurück fährt, macht jede Menge Meter auf der Dosenbahn, einspurig wurde mir das glatt verweigert.

Passt schon, so scharf wär’ ich eh’ auch nicht drauf gewesen. Außerdem hat das Schlachtschiff einen Tempomat. Aber immerhin hatten wir sechs Tage für die Angelegenheit vorgesehen; heißt zwei Tage Hardcore Meter und Geschäftliches machen, und vier Tage bummeln.

So viel Autobahn ist auch mit dem Dieselschlachtschiff nicht aufregend, umso mehr, als es immer dieselbe Strecke ist, die wir fahren. Also machen wir jetzt endlich das, was wir uns schon seit drei Jahren vornehmen, nämlich „Irgendwann, wenn wir einmal Zeit haben, fahren wir da schon in Kroatien quer ab durchs Gebüsch“ … jetzt haben wir Zeit. Also biegen wir nördlich des Velebit scharf links ab, um uns quer durch die Gegend nach Rijeka zu schlagen.

Auf den ersten Blick sieht es aus wie Oberkärnten: Steil, bewaldet und in allen nur erdenklichen Schattierungen von Grün, vom Hellgrün des ganz jungen Laubwald bis zum satten Dunkel der alten Tannenbäume. Zehn Kilometer von der Autobahn ist schon die tiefste slawonische Provinz. Die Landstraße kurvt sanft den Talboden entlang – das wäre jetzt geil auf dem Motorrad. Die Schlaglöcher sind aber auch nicht ohne, und auch die flächigen Frostaufbrüche hinter der engen Kurve, also vielleicht doch wieder nicht. Außerdem sind wir ja sowieso per Schlachtschiff, also was soll’s. Am Straßenrand weiden friedlich Kühe, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Es ist höchst malerisch. Dann kommt die Abzweigung.

„Das willst Du fahren?“ fragt die beste aller Ehefrauen entsetzt und meint den steilen Feldweg, in den ich abbiege. Aber ich war hier schon mal, das ist die Regionalstraße nach Bjela Lasica, und wer wird denn gleich so pingelig sein, überall Asphalt zu erwarten.

Der Karstwald nordöstlich von Rijeka hat eine ganz eigene Atmosphäre. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein Wald bei uns – Nadel- und Laubbäume gemischt, mit dicht bewachsenem Waldboden mir Farnen und Büschen. Doch wenn man genauer hinschaut, merkt man, dass das Terrain darunter Karstfelsen sind, die so wild zerklüftet sind, dass der Wald einen wildromantischen Aspekt bekommt.

Das muss man sich so vorstellen wie die Macchia bei uns im Süden: Selbst wenn Du es schaffst, durch das dichte Dornengestrüpp zu kommen, ist der Boden darunter so zerklüftet, dass Du dir garantiert ein Bein brichst oder zwei Meter über irgend einen Felsvorsprung fällst, den Du unter der dichten Bodenbewachsung erst erkennst, wenn Du ihn gerade herunterpurzelst.

Nur dass es hier echter Wald ist, so ein Hänsel-und-Gretel-Wald, mit wild aufragenden Felswänden und steil abfallenden Klippen mit kleinen Lichtungen, in die von oben einzelne Sonnenstrahlenbündel fallen, in denen dann die Mücken tanzen und die großen Farne ihre seltsamen Wedel schwenken. Riesige Baumstrünke liegen dort, wo sie umgefallen sind, überwachsen von Moos und Büschen. Dort hinten kommt gleich der Böse Wolf ums Eck, und bei der nächsten Weggabelung steht sicher: Schneewittchen, zwei Kilometer links.

Dort stehen dann nur zwei Orte zur Auswahl, die es partout auf der Karte nicht geben will. Also würfeln wir und nehmen die andere Abzweigung. Nach zwei Stunden haben wir dreißig Kilometer gemacht, auf einer Art Forststraße mit tiefen Furchen. Ob ich da mit der Triumph und der besten aller Ehefrauen hinten drauf noch entspannt gefahren … nach einer weiteren halben Stunde senkt sich die Straße merklich abwärts, links und rechts tauchen Felder auf, in denen zwar noch immer riesige Dolinen klaffen, aber wenigstens dazwischen könnte man schon querfeldein gehen. Und dann ist die Strasse wieder asphaltiert, und wir reiten in ein Karstdorf ein. Eigentlich schaut es aus wie in der Untersteiermark, vor dreißig Jahren. Wir sind in drei Stunden knapp 26 Kilometer Luftlinie weiter gekommen. Aber hübsch war’s. Noch zehn, fünfzehn Kilometer kleine kurvige Landstrasse, dann hat sie uns wieder, die Dosenbahn.

Jetzt aber Meter machen, Herbert, es ist schon Nachmittag, und wir sind noch nicht einmal aus Kroatien draussen.

Gesagt, getan. Triest, Palmanova, Portogruaro, wohin fahren wir eigentlich? Ach ja, Olten. Nach meiner ursprünglichen Planung wollte ich bei Vicenca nordwestlich abbiegen und mich über’s Gebirge ins Trento schlagen, dort irgendwo übernachten und am nächsten Tag über den Brenner und unter dem Arlberg hindurch nach Zürich und weiter nach Olten fahren. Nach drei Stunden ist Vicenca, hier zweigt eine Dosenbahn nordwärts ab, die führt bis Thiene, irgendwann soll sie dann weiter nordwärts führen, über den altopiano dei sette commune und dann durch das Gebirgsmassiv hindurch, um dann zwischen Rovereto und Trento in die Brennerautobahn einzumünden. Gab’s da nicht Widerstand? Irgendwie lassen sich ja auch die Italiener nicht mehr alles gefallen. Egal, ich will jetzt nicht politisch korrekt sein, sondern fahren, und wenn schon nicht Motorrad, dann wenigstens noch einen Pass, also biegen wir vorher westwärts nach Schio ab und fahren weiter, Richtung Pasubio.

Obwohl es Mitte Juni ist und daher abends ganz lange hell, ist es hinter Schio schon dunkel, man sollte sich einen Schlafplatz suchen, wenn geht auch was zu Essen. Torrebelvicino heisst es hier, mag sein, aber man sieht nichts davon, verdammt, das ist hier tiefste Provinz, um halb zehn ist alles dunkel und abgesperrt. Ich dachte, in Italien geht man erst nach neun Uhr abends essen? Na ja, in Rom vielleicht, oder in Firenze, aber das hier ist das Trento, hier wohnen die Ladiner, die sind ehrbar und gottesfürchtig und gehen offenbar mit den Hühnern schlafen. Die Strasse führt stetig bergauf, die Häuser in den Dörfern sind aus Stein und dreistöckig, eng stehen sie links und rechts, dunkel und abweisend. Da, rechts – ein Licht, Albergo und Ristaurante, wir sind gerettet.

Wir sind auch die einzigen Gäste, wir bekommen noch eine Extraportion Pasta mit irgendeiner fatte-in-casa-Sauce drüber, con s-peck, aber es schmeckt anständig und wir gehen gleich schlafen. Für den Gutenacht-Tschick muss die beste aller Ehefrauen vor die Tür, wir schweigen gemeinsam die dunkle Dorfstraße hinunter. Minutenlang kommt kein Auto, dann kommen doch die Carabinieri vorbei, in ihrem Fiat. Na bitte, doch Zivilisation. Wir schlafen tief und fest, als wären wir einen Tag lang auf dem Bock gesessen.

Am nächsten Tag kommen wir drauf, dass wir genau unter dem Pasubio sind, dunkel und steil ragt er vor uns in den Himmel. Wir fahren los. Spitzkehre, dann noch eine, dann noch eine, dann noch eine – bei vierzehn höre ich auf zu zählen.

Wenn es jetzt nicht so regnen würde, wäre das nett mit dem Motorrad zu fahren. Heast, das ist steil.

Sooo hoch sind die Berge hier gar nicht, aber dafür die Talsohlen so tief unten. Gerade mal 2352 Meter ist der Pasubio, 2112 der Colsanto, dazwischen zwängt sich die Passstrasse, aber gleich danach senkt sich der Talboden bis auf 350 Meter Meereshöhe, das fällt ganz schön heftig ab. Mitten auf die steilen Flanken sind dann die Bergdörfer geklebt, irgendwie, die Häuser alle aus Stein und mit zwei, drei Stockwerken, schmal, hoch, mit Schieferplatten gedeckt.

Hier war mal eine Grenze. Im ersten Weltkrieg. Oben auf der Passhöhe können sie sich gar nicht einkriegen, vor Gedenktafeln. Weiter unten haben wir einen Weinberg gesehen, der war so steil terrassiert, das man sich dafür abseilen musste. Hier wächst ein feiner Vernatsch, aber wenn Dir die Leseschere runter fällt, fällt sie ziemlich weit. Und in so einem Terrain haben sich die Idioten den Stellungskrieg gegeben, haben Saumpfade angelegt, den Berg untertunnelt wie einen Schweizer Käse, haben tonnenschwere Geschütze auf die Gipfel geschleppt, und die Munition auch noch. Über hunderttausend von ihnen hat das alleine im Trento das Leben gekostet, drei lange Jahre, alles für Arsch und Friedrich. Oder für Kaiser und Vaterland. Oder auch vielleicht für Gott und Heimat, kreuzen Sie bitte das entsprechende an.

Oben, am Pass, die bronzene Gedenktafel: Italia! Italia! Italia! Manchmal möchte man an seinen Mitmenschen einfach verzweifeln. Als kleine Rache pinkle ich den Stein an, auf dem die Tafel hängt, aber ich fürchte, das wird nicht helfen.

Noch eine ganze Stunde windet sich das Bergsträsschen die steile Bergflanke entlang, von Piano bis Rovereto, dann sind wir auf 200 Meter Seehöhe und in den Gärten wachsen wieder die Palmen. Und auf der Brennerdosenbahn staut es. Na super. Aber das Schlachtschiff hat ja auch eine Klimaanlage. So lümmeln wir entspannt in den Sitzen und hören B.B. King und Amr Diab. Siehst Du, sagt mein kleiner Mann im linken Ohr, sei froh, dass Du nicht auf dem Bock bist, dann würdest Du jetzt im schwülen Regen zwischen Neumarkt und Bozen auf der Dosenbahn herumstehen und auf den Rosengarten starren.
Ich sag’ jetzt einmal gar nix.

Rings herum gäbe es ja noch eine Reihe von wirklich lockenden Pässen, aber die beste aller Ehefrauen besteht darauf, heute Abend in Olten zu sein, also ist der Rest Routine. Und um sechs am Abend sind wir tatsächlich in Olten.

Von Olten selbst ist wenig zu berichten, außer dass es exakt dort lag, wo wir es erwartet hatten, und auch so aussah. Am Tag darauf ist alles, wofür wir unterwegs sind, erledigt, also können wir entspannt wieder nach Hause bummeln.

Zur Rückfahrt wollte ich unbedingt die Via Mala und den Splügenpass nehmen. Auch hier ist Ladiner Land, nur heißen sie hier Romansche, dafür ist der Baustil ähnlich, es ist nach wie vor alles aus Stein. Chur heißt auf Romansch Cóira und ist die älteste Stadt der Schweiz, wir fahren trotzdem vorbei und biegen bei Bonaduz südwärts ab, in die Via Mala hinein. Die sieht so aus, wie man sie sich vorstellt, mit schroff abfallenden Felsklippen und gletschermilchweißem Wasser, das am Boden der Schlucht tobt. Leider wird die romantische Idylle ein wenig durch die Autobahn gestört, die mittendurch führt. Ich meine, ich fahre ja selber und bin nicht wirklich technophob, aber das hier ist schon heftig. Zumal ja auch noch eine Bundesstrasse durchführt. OK, die Autobahn heißt nur Schnellstrasse, aber die etwas engeren Kurvenradien und die fehlende Standspur ändern nix daran, dass das Ding echt quer durch die Landschaft klotzt. Wäre ich ein lokaler Romanscher, wäre ich ordentlich angefressen. Ich bin aber keiner, und wir nehmen die Bundesstrasse.

Die Schlucht ist übrigens an sich sehr beeindruckend. Und bei Andeer ist sie wieder aus. Das anschließende kleine Quertal heißt Rheinwald, wohl weil hier ums Eck mit Vorder- und Hinterrhein derselbe entspringt. Um den Gole di Rofla herum nach Sufers und zum Ort Splügen. Der ist mit 1450 Meter fast schon so hoch wie der ganze Pasubio vor zwei Tagen, und dennoch führt die kleine Straße von hier südwärts noch einmal achthundert Meter hinauf auf den Splügenpass mit 2115 Meter, links die Suretta, rechts der Piz Tambo, dazwischen der Talschluss, weit jenseits der Baumgrenze, es ist eine einzige riesige Geröllhalde, die hinauf sich die schmale Strasse windet. Zwei Kehren vor dem Pass überholen wir im Regen zwei Radfahrer. Wären die jetzt am Mopped, würde ich mir denken, pfau, harte Hunde. Aber am Fahrrad? Dabei ist das sicher die wesentlich härtere Nummer.

Aber von Logik war ja auch nie die Rede, da hätten wir gleich nach Zürich fliegen können.

Auf der Passhöhe ducken sich zwei kleine Steinhäuser und ein Grenzstein, ein Schranken, die Italiener haben sogar eine Fahne wehen, über den Pass peitscht vom Süden her der Regen in heftigen Böen. Es geht ganz besonders steil abwärts. 800 Höhenmeter in knapp 40 Kilometer, um dem ganzen eine Dimension zu geben. Zweihundert Meter unter dem Pass liegt Montespluga, früher einmal ein nur im Sommer bewirtschaftetes Almdorf. Alles ist aus Stein, kein Baum in Sicht. Seit dreitausend Jahren führt hier ein wichtiger Handelsweg von Chur nach Mailand, Gott muss das hier heroben einsam gewesen sein. Eigentlich ist es ja jetzt noch trostlos, umso mehr als es inzwischen in Strömen regnet. Wir parken uns für einen Kaffee ein und bewundern die herumstehenden Moppeds. Ja ja, es ist Samstag und nach Mailand sind es knapp 100 Kilometer. Warum soll das hier anders sein?

Der Herr vor uns sieht aus wie ein gepflegt-erfolgreicher höherer Manager, alleine die Frisur seiner Beifahrerin hat sicher dreistellig gekostet. Die stopft sich jetzt missmutig die teure Frisur unter den teuren BMW-Klapphelm und klettert auf die teure 1200 GS Adventure zu ihrem ebenso schick wie teuer gestylten Partner, um im strömenden Regen mit (hinter?) ihm bergwärts zu fahren. Ich schätze die beiden so um die Mitte Vierzig, was müssen die sich beweisen? Weil so wie Spaß hat das nicht ausgesehen. Einen Augenblick lang überlege ich mir, ob ich ihnen sagen soll, dass es jenseits des Passes nicht mehr regnet. Aber ich sitze ja in einer Dose, also lass’ ich es bleiben.

Anschließend sind die rund 40 Kilometer die reine Kurvenorgie, die wir uns mit Moppedfahrern in jeder Aufmachung plus ein paar wahnsinnigen Radfahrern teilen, bergab drücken die Jungs mächtig an, ob es auf einem Fahrrad so etwas wie Schissrand gibt? Im Regen? Und es gibt mehr als eine Kurve hier, in der Du nicht hinfallen willst, unter gar keinen Umständen, weder nass noch trocken. Und es wäre nicht wegen der Leitplanken, allenfalls wegen Fehlen derselben. Hab’ ich schon gesagt, dass es steil abwärts geht?

Im Winter muss das hier eine schicke Skigegend sein, so nahe bei Mailand, die Dichte der heftig scheußlichen Appartmentblöcken, auf modern-alpin gequält, nimmt mit abfallender Meereshöhe quadratisch zu. Im Tal, hinter Chiavenna, tritt sogar die lokale Rennleitung auf, aber die winken nur irgendeine dicke Harley vor uns an die Boxen.

Je weiter wir nach unten kommen, desto mehr klart es auf, beim Comer See gibt’s dann wieder Palmen und Sonne. Und eine Autobahn, auf der man nix zahlen muss, den ganzen See entlang bis Lecco. Das sind rund 80 Kilometer, davon rund die Hälfte in Tunnels. Ich hätte lieber was bezahlt und dafür in den Tunnels eine ordentliche Beleuchtung gehabt. Du fährst jedes Mal ins absolute schwarze Loch, soviel illegale 100 Watt Birndln kannst Du gar nicht drin haben in Deinen Scheinwerfern. Von einer Sonnenbrille ganz zu schweigen.

Wir wollen heute noch bis Bologna und dann südlich in den Appenin, also werfen wir uns nach Bergamo und machen wieder einmal Meter auf der Dosenbahn. Brescia, Cremona, Parma, Modena – das klingt wie eine Speisenkarte, bringt uns aber nur bis südlich von Bologna. In Sasso Marconi biegen wir ab ins Gemüse. Wer hat übrigens gewusst, dass Guglielmo Marconi hier ein scheußliches, riesengroßes Mausoleum hat? Wir schütteln uns pflichtgemäß beim Vorbeifahren, dann geht es ab in die Berge.

Irgendwie haben die Idee auch andere gehabt, vor allem Bockfahrer. Diesen Teil des Appenin nennen die Italiener Alpe di San Benedetto, und es gibt viel mehr italienische Bockfahrer, als man sich so vorstellt. Und dass die hier so viele Japsen und Joghurtbecher verkaufen dürfen, hab’ ich mir auch nicht gedacht.

Die Gegend ist lieblich hügelig, zwischen 700 und 1200 Meter, auf den einzelnen Hügeln liegen jeweils kleine Städtchen, die in der untergehenden Sonne in allen Erdfarben leuchten, die man sich nur vorstellen kann, von dunkelrostrot über siena und hellbraun bis gelberdig. Auf einem der kleinen Hügel finden wir, was wir suchen, weil man es uns mehrfach empfohlen hat: Das schicke kleine italienische Landhotel mit Superküche. Als wir in den Hof einfahren, reihen sich die BMW und Mercedes neben den Porsches. What ever happened to Alfa Romeo, von Ferrari oder Maserati ganz zu schweigen? Schließlich sind das hier alles Nummernschilder aus Bologna und Firenze, für das Geld muss es doch hier ganz andere Autos geben als Range Rovers und irgendwelche japanischkoreanischchinesische-SUV-Monstren?

Die beste aller Ehefrauen schaut mich an, ich schaue sie an, dann fahren wir wieder aus dem Hof. Der nächste Ort heißt Loiano, dort steht das Hotel Residence Pineta, ein riesengroßer, etwas altmodischer Kasten, in dem das Doppelzimmer fünfzig Euronen kostet. Wir sind das  einzige Auto auf dem Parkplatz, der Rest sind nur Motorräder, die meisten aus der Gegend, zwei, drei Österreicher, plus der übliche Genierpiefke. Im Ort gibt es einen dicken Wirt namens Benvenuti, der heißt wirklich so und freut sich einen Affen ab, als wir uns auf die Terrasse setzen wollen. Erstens ist es nicht so kalt, zweitens drinnen schon bummvoll, und last but not least will die beste aller Ehefrauen auch vor dem Essen tschicken.

Herr Benvenuti klagt, dass er seit fünf Wochen die Terrasse herausgeräumt hat, „aber keiner will draußen sitzen, es ist zu kalt hier heroben.“ Siebenhundertfünfzig Meter und so weit südlich wie die Côte d’Azur find’ ich ja nicht so berauschend hochalpin, aber Italiener sehen das anders. Ob uns der padrone ein paar lokale paste machen kann, so zum ausprobieren?

Er kann, wir bekommen pro Person vier Probeteller, dann sind wir abgefüllt, noch ein Liter rosso di casa, und während Herr Willkommen die Formen der einzelnen handgemachten Nudeln und ihre Saucen aus Schwammerln und Ruccola und formaggio bianco und wasweissichnochköstliches im Detail erklärt, dösen wir friedlich in den Abend.

Für die Heimkehr erweist sich das Schlachtschiff wieder einmal als enorm nützlich, weil kann nicht umfallen, unter keinen Umständen. Wir schlafen tief und fest und träumen von Schwammerlsaucen und frischem Löwenzahn.

Am nächsten Tag strahlt die Sonne, und ich schwöre, noch nie in meinem Leben auf Nebenstrassen so vielen Motorradfahrern auf einmal begegnet zu sein. Wir zockeln durch die Landschaft, über winzige, kurvenreiche Landstrassen, die sich über unzählige Hügel hinauf und wieder hinunter winden. Zu Mittag landen wir in einem Kaff namens Firenzuola, mit einem quadratischen Renaissanceplatz und einer hochmodernen Betonkirche aus den Fünfzigern, wer weiß, was sich da für eine Geschichte abgespielt hat. Weil es Sonntag Vormittag ist, ist der ganze Ort erstens auf den Beinen und zweitens auf dem Hauptplatz zu finden, tutta la famiglia von der Oma, die im Kaffeehaus mit anderen Omas tratscht, bis hin zu den Kids, die sich im Fußball auf der piazetta üben. Dazwischen werden Neuigkeiten ausgetauscht, das neue Kleid ausgeführt und der mögliche Schwiegersohn begutachtet.

Wir sitzen unter den Arkaden und essen schon wieder, kleine scharfe Dauerwürste und getoastetes Weißbrot mit köstlichen Aufstrichen und einen ebenso köstlichen Salat und irgendwelche handgewuzelten dicken Nudeln „con uovo, signore“ mit ebenfall köstlicher Sauce, und wir wissen schon wieder nicht genau, was es ist, außer dass es garantiert dick macht.

Anschließend gehen wir ein bisserl Kurven fahren, weil bisher hatten wir ja das noch nicht.

Jetzt fliegen die Moppedfahrer wirklich tief: Die gemütlichen Tourenfahrer, der dicke ältere auf dem dicken älteren Bock, der verhinderte Rennfahrer mit dem knackigen Lederarsch, den er vor mir in die Kurve hängt, als gelte es sein Leben. Die Rudelfahrer, die sich einzeln fürchten und daher immer gemeinsam auftreten. Der junge Mann, der sein Mädchen ausführt. Dazwischen alles andere, Guzzis, Ducatis, Cagivas, aber auch Japsen und die allfälligen Bi-Emme-Wu’s, die eine oder andere Buell und Harley. Die leise an Dir vorübertuckernden. Die hemmungslos laut in die Kurven brüllenden. Die die so knapp an Dir vorbeifahren, dass Du dich fast anscheißt. Und schließlich auch die, die einfach auf Deiner Strassenseite aus der Kurve heraus kommen.
Das wir mit keinem dieser Deppen zusammenstossen, grenzt an ein Wunder.

Wer nach Scarperia fährt und glaubt, dort gibt es Schuhe, wird eines besseren belehrt. Die Spezialität des Ortes, lehrt uns unser Führer, sind Messer. Wir sind die Straße von Firenzuola gekommen, über einen Pass, selbstverständlich, den Giogo di Scarperia, der heißt wirklich so, und je näher wir dem Ort kommen, desto mehr Motorräder gibt es.

Die Eingeweihten grinsen schon, aber wir waren keine Eingeweihten, also kamen wir den Hügel herunter von Ponzalla Richtung Scarperia, und dann sahen wir sie: Zehntausend, nein, fünfzehntausend Motorräder, alle sorgsam abgestellt, auf Wiesen, auf Nebenstrassen, in Höfen, auf Gehsteigen und auf Parkplätzen. Und wenn ich sage abgestellt, dann meine ich abgestellt, wenn der Besitzer des Bockes in der Mitte des Parkplatzes wegfahren will, muss er warten, bis die anderen auch wegfahren, weil sonst kommt er an sein Fahrzeug erst gar nicht heran.

Und in der Ferne hörte man es endlich, das dumpfe Dröhnen, das beim Näher kommen immer heller wird, bis es in der Nähe zu einem schrillen Kreischen wird, das alles durchdringt. Weil auf dem Autodromo del Mugello gab es den alljährlichen Motorrad Grand Prix, und ja, der Rossi hat gewonnen, zum achten Mal, wie die Zeitung am nächsten Morgen beim Frühstück erklärt. Das Foto von Rossi nimmt die halbe erste Seite ein, dabei ist der Kerl doch eh’ so ein Zniachtl.

Ich hab’ nicht einmal kurz überlegt, ob ich stehen bleiben soll, angesichts dieser Massen, weil ein paar Wiesen waren auch mit Pkw zugeparkt, fein säuberlich in Reih’ und Glied, das ist ein gesittetes Volk, die Italiener.

Also fuhren wir die fünf Kilometer bis Borgo San Lorenzo und dann die strada statale 302 wieder nordwestwärts, selbstverständlich über einen Pass, den Colle dell’Alpe, Gott strafe mich, so heißt der, und dann noch einen und dann noch einen, bis nach Faenza hinauf.

So weit im Norden fiel dann die Frequenz der einspurigen Kollegen wieder auf die eines normalen Sonntag Nachmittag, im Juni, bei schönem Wetter, in der Toscana, der Emilia Romagna oder den Marche.

Am nächsten Tag ist Montag, und wir schiffen uns am Abend auf die Fähre nach Split ein. Natürlich sind wir viel zu früh da, aber die beste aller Ehefrauen kommt lieber zu früh als zu spät an. Nebenan liegt eine grosse griechische Fähre, nach Patras, und eine ganze Gruppe von griechischen Motorradkollegen, die offenbar alle in Mugello waren, schickt sich an, sich einzuschiffen, und versammelt sich zu diesem Zwecke vor der Laderampe.

Da fachsimpeln zwei, die Lederhose offen bis zum Bauch. Eine mittelalterliche Dame kramt im Seitenkoffer, zwei graumelierte Herren mit Schmerbauch sitzen auf ihren Böcken, rauchen und trinken je eine Dose. Bier, wahrscheinlich, könnte aber auch Cola sein. Mindestens dreißig Weiblein und Männlein scharen sich da, und das Durchschnittsalter liegt deutlich über dreißig, wenn ich das richtig einschätze.

Irgendwie möchte ich mit diesem Rudelreisen nicht assoziiert werden, also bin ich jetzt ganz froh, wieder im Dieseldampfschiff zu sitzen, da fallen wir wenigstens nicht auf. In Wirklichkeit, vermute ich, geht es bei diesen Rudelauftritten überhaupt nur ums Ankommen und Abfahren und den damit verbundenen Rudeleffekt. Weil Kolonnenfahren auf der Dosenbahn kann einfach nicht so witzig sein.

Ach ja: Gegenüber der Abfertigungshalle schon wieder so eine Bronzetafel. Diesmal in die Stützmauer der hier steil ansteigenden Altstadt eingelassen. „Im Angesicht der Heimat“ lese ich da, „für immer von ihr entfernt … nie vergessen … ewige Treue“ da haben sich die Kolonialitaliener verewigt. 1974 steht da als Jahreszahl, nix erster Weltkrieg. Lernen die Deppen denn nie dazu?

Am Abend legen wir endlich nach Split ab.

Fazit: Dreitausend Kilometer, rund eine Woche unterwegs, und dank Klimaanlage eine Sehnenscheidenentzündung im linken Ellenbogen. „Mit dem Motorrad wäre das nicht passiert“, mault mein Bauch. „Mit dem Motorrad hättest Du jetzt mit den Rudelgriechen einen hoch peinlichen Auftritt hinlegen müssen“, erwidert mein kleiner Mann im Ohr.

Derzeit fatsche ich meinen linken Unterarm. Und fahre wieder regelmäßig mit der Triumph einkaufen. Weil da geht ja auch was rein, in die Koffer.

Grundsätzlich führte die Route von Split nördlich über die Dosenbahn bis Ogulin, von dort westwärts durch den nördlichen Karst (Bjela Lasica) bis Rijeka und Triest, dann A4 Mestre – Padua – Vicenca – Passo Plan – Trento – Brenner – Arlberg – Zürich (jaja, und Olten) und retour via Chur – Splügen – Lecco – Bergamo – Brescia – Cremona (A1) – Bologna – quer durchs Gebüsch zwei Tage bis Ancona – Fähre nach Hause (Split).
Bockmässig relevant waren dabei (es empfiehlt sich jeweils der Blick auf Google Earth)
a) die Strecke durch den Karstwald Bjela Lasica nordöstlich von Rijeka,
b) die Strecke Vicenca –Rovereto (vor allem das Stück ab Schio über den Pasubio vom Veneto ins Trentino hinüber,
c) der Splügen, genauer gesagt von Chur (Schweiz) –Via Mala – Splügen Ort & Pass – Chiavenna und den Comer See entlang,
d) und zuletzt die Alpe di San Benedetto, von der Autobahnabfahrt (A1) Sasso Marconi bis Scarperia und dann die SS 302 nordostwärts bis vor Faenza.

Auf allen Strecken hatten wir reichlich einspurigen Verkehr in beide Richtungen, also bitte nicht hauen, wen wer die beschriebenen Strecken schon kennt/gefahren ist.

Abfahrt 22 Uhr 22 oder I don’t work here …

Und es begab sich, dass ich von Split nach Wien mit der Bahn fuhr.

An sich bin ich ja ein romantischer Mensch und liebe es, Eisenbahn zu fahren. Aber mit dem Auto schaffe ich die Strecke Split-Wien in sieben Stunden, ohne gegen die StVO zu verstoßen, während das mit der Eisenbahn – schladagonk, schladagonk – stolze sechzehn Stunden von Split bis Wien (oder auch umgekehrt) dauert. Es muss also schon ein besonderer Grund vorliegen, um mit der Eisenbahn fahren zu wollen.

Den gab’s auch, in Form eines direkten Kurswagens, Auto-im-Reisezug eingeschlossen. Den gibt es seit heuer neu, einmal pro Woche und jeweils für den Nachtzug, und auch nur während des Sommersaison. Aber es gibt ihn eben, da steigt man in Split ein und in Wien wieder aus, und so gesehen ist das sehr kommod. Und weil ich das Triumph-Monster nach Wien bringen wollte, um es dort zu verkaufen, auf der anderen Seite aber keine Lust auf sieben Stunden Dosenbahn per Motorrad hatte, kam die Sache mit dem Kraftrad im Reisezug wunderbar zupass.

Nun ist die Sache mit der Eisenbahn in Split eine ganz einfache. Nämlich die, dass es zu Kaisers Zeiten eine Reihe von Eisenbahnlinien von Split weg gab, in alle nur erdenklichen Richtungen, aber irgendwie hat die alle die Geschichte hinweggefegt. Die letzte, die so dahingerafft wurde, war die Verbindung Split-Sarajewo, über die vor dem letzten Krieg – aber das schenken wir uns hier. Jedenfalls gibt es heute eine einzige Bahnverbindung, die von Split weg führt, und die geht nach Agram. Will heissen: Egal, in welchen Zug Du auf dem Bahnhof Split steigst, er fährt immer in dieselbe Richtung, und am anderen Ende ist Agram. Immer. Versprochen.

Konsequenterweise gibt es denn vier Züge, zwei hinauf und die anderen zwei wieder herunter, einer fährt in der Früh weg und tschundert über Velebit und Kapela tagsüber in atemberaubender Geschwindigkeit, der andere fährt am Abend und tschundert halt durch die Nacht. Aber sonst ist die Sache einfach, schlicht und übersichtlich, und der ganze Fahrplan für Split passt auf eine Postkarte.

Das mit dem Auto im Reisezug gab’s schon immer, nach Agram nämlich, und früher™, als es noch keine Autobahn gab und man sich quer durch die Krajina und über das Gebirge nach Karlstadt quälen musste, war das eine echte Alternative, vor allem im Winter, denn da kann es auf dem Velebit und bei den Plitvitzer Seen ordentlich Schneeverwehungen geben.  So nahm man den Nachtzug nach Agram, und lud das Auto dazu, und am nächsten Tag fuhr man den Rest. Aber jetzt gibt es, wie gesagt, eine durchgehende Autobahn, komplett mit zwei feinen Tunnel unter dem Gebirge, und damit kam das mit der Eisenbahn irgendwie aus der Mode.

Außer, wie gesagt, es ist Sommer und Sonntagabend, weil da steht dann seit heuer ein Kurswagen direkt nach Wien, das ist dann schon wieder eine Alternative.

So Kurswagen sind überhaupt eine feine Sache. Also gibt es – neben dem nach Wien – auch einen nach Prag, und dann auch noch einen nach Budapest. Wobei vielleicht noch erwähnt werden sollte, dass alle diese Kurswagen Liege- oder Schlafwagen sind. Wer keine entsprechende Reservierung hat, steigt in den normalen Zug und steigt am nächsten Tag – während unsereins im Kurswagen entspannt am Polster horcht – um halb sechs Uhr früh leicht ferngesteuert in Agram aus, um anschließend zu den jeweiligen Züge nach Wien, Prag oder Budapest zu wanken. Aber das sind schon die einzigen Varianten eines ansonst einfachen Fahrplans. Und so ist die kroatische Eisenbahnwelt einfach und übersichtlich und nicht wirklich mit Orientierungsschwierigkeiten verbunden.

Natürlich gibt’s das alles nur im Sommer, aber davon gehen wir ja aus. Im September ist dann wieder Schluss, aber ich fuhr im August, und da war echt was los. In Wirklichkeit ist da so viel los, dass die beiden Züge nach Agram doppelt geführt werden, in Abständen natürlich. Also zwei in der Früh und zwei am Abend. Das macht die Sache aber noch immer nicht wirklich unübersichtlich. Es gibt dann halt zwei Nachtzüge nach Agram, der eine kommt um halb vier in der Früh an und der andere um halb sechs, das macht natürlich einen Unterschied, aber nur für die Bequemlichkeit. Weiter fahren kann man auch von Agram erst, wenn beide Züge aus Split angekommen sind. Und so gesehen ist es eigentlich völlig wurscht, in welchen Zug man steigt. Außer natürlich man will den Kurswagen nach Prag, der fährt um halb neun am Abend, während die Kurswagen nach Budapest und Wien an dem um halb elf am Abend dran hängen.

Das mit der Übersichtlichkeit gewinnt überdies noch, indem dass der Bahnhof Split nicht so aussieht wie der Gare de l’Est oder Waterloo Station, sondern ein winzigkleiner k. & k.-Bahnhof ist, mit zwei Perrons und vier Geleisen. Das hat was damit zu tun, dass man dereinst, zu Kaisers Zeiten, den Bahnhof im Stadthafen haben wollte, damit es sich leichter auf die Fähren auf die vielen Inseln umsteigen ließ. Das ist auch heute noch so. So liegt eigentlich der ganze Bahnhof Split im Norden der Stadt, komplett mit Abstellgeleisen und Frachtabfertigung und Rangierlokomotiven, anschließend gibt’s einen langen Tunnel unter der Altstadt durch, und dann ist man im Personenbahnhof, der in Wirklichkeit nur einem einzigen Zug Platz bietet. Aber da, wie gesagt, nur jeweils in der Früh und am Abend einer kommt und wieder fährt, geht sich das alles seit Jahren und zur allseitigen Zufriedenheit bestens aus.

Und so saß ich an besagtem Sonntag Abend entspannt auf den Stufen der Tür zu unserem Liegewagen nach Wien und beobachtete den Zug der Reisenden, der aus dem Bahnhof heraus auf den Perron und zum Zug strömte. Bis zur Abfahrt war es noch eine gute halbe Stunde und ich war mit mir und meiner Entscheidung sowie der Welt im Allgemeinen zufrieden und im Einklang.

Dann kam die erste Rucksackmaus.

„Do you work here?“ kam es etwas verschüchtert.

„Do I look like it?“ Es tut mir leid, aber an so einer Steilvorlage kann man nicht einfach vorübergehen. Anschließend war ich so nett und fragte, was sie denn wissen wolle.

Ob dass der Zug nach Budapest sei?

„Well, it goes to Zagreb, where you’ll have to change for the one to Budapest.“

„But I was told there’s a direct connection.“

„Do you have a reservation?“

„No.“

Tja, Schatzi – wenn kein Liegeplatz, dann in Agram ferngesteuert um halb sechs … aber das hatten wir ja schon. Die Rucksackmaus schaut mich verstört und etwas feindselig an.

Ich hab’ doch gesagt, dass ich hier nicht hackel – was gehen mich die Marketingschmähs der kroatischen Eisenbahnen an, oder die des Fremdenverkehrsverbandes, was weiß ich. Dann versuche ich zu erklären, was ein Kurswagen ist.

Da kommt schon die Nächste. Die hält sich erst gar nicht mit Preliminarien auf, sondern fragt gleich erbost „Where’s the train to Prague?“

„Do you see any other?“ Nein, Sarkasmus ist jetzt nicht gut. Da war die Antwort aber schon draußen. Wenn Blicke töten könnten, wäre ich jetzt tot.
Ich hätte den Mund halten sollen. Oder mich nicht auf die Stufen setzen sollen. Aber dann würden die jetzt alle durch den Liegewagen strömen, wahrscheinlich. Naja, egal, nu isses passiert.

Da kommt noch eine, diesmal mit einem Handtaschlträger im Schlepptau, muskulös und braungebrannt. Für die Kommunikation ist er offenbar nicht zuständig, aber immerhin trägt er den Rucksack. Und dann die obligate Frage, ob das der Zug nach Budapest …

„Listen, luvvie – there is only one train, wherever  you’re going …“ Luvvie schaut so böse, dass ich mir denk’, jetzt haut mich gleich der Handtaschlträger … aber offenbar hält sie mich nur für einen Trottel und geht, nachdem sie mich mitleidig von oben bis unten gemustert hat, nach links wieder ab.

Nach fünf Minuten kommt sie wieder, und wo denn nun wirklich der Zug nach Budapest … „’cause this one’s only going to Zagreb … “ Tja, Schatzi … und was soll ich da jetzt machen? Wie soll ich in den zehn Minuten bis zur Abfahrt die – na, schätzen wir mal freundlich – dreiundzwanzig Lebensjahre korrigieren? Oder was genau war jetzt das Problem?

Der nächste ist ein Mann und daher noch dümmer, obwohl man dies fast nicht für möglich gehalten hätte. Ob das der „train to Zagreb…“

„Can you read?“ Ich zeige auf die Tafel, vor der er steht. Elektronisch, wir sind ja nicht in Hintertupfing. Und da steht schließlich: Zagreb, odlazak 22.22 h. Selbst wenn man nicht weiß, dass odlazak Abfahrt heißt, ist das meiner Ansicht nach eine glasklare Ansage. Ich meine, auf einem Bahnsteig … vor einem einzigen Zug … würden Sie das jetzt für den Autobus nach Dubrovnik halten, wenn Sie das gelesen hätten?

Na also. Aber Mausimann hält mich jetzt für einen dieser endlos arroganten Kontinentaleuropäer, und sicher wird er sich darüber zu hause lautstark beschweren. „How rude some of those people …“ Ich hätte noch viel unfreundlicher sein können, Liebling, ich war nur gerade noch so friedlich … zu spät. Schon ist er angefressen abgerauscht.

Und so kann dich in knapp zwanzig Minuten bis zur Abfahrt an einem lauen Sonntagabend im Sommer in Split der Menschheit ganzer Jammer anspringen, ansatzlos und überwältigend.

Schluchz.

Den Vogel schoss einer ab – dem Tonfall nach war’s irgendein Ami – der sich beschwerte, auf dem Fahrplan stünde Gleis zwei, und dies sei aber Gleis drei, und was denn jetzt richtig wäre … Friedrich, mein Geschoß … aber da springt der Minutenzeiger der Uhr auf 22, vorne wird gepfiffen, hinten wird zurückgepfiffen, aus verschiedenen Waggons winken verschiedene Schaffner, die Lokomotive pfeift lang und laut, einen Viertelton zu tief – und wir fahren, endlich.

Fazit: Das nächste Mal setz’ ich mich woanders hin.

Bob Dylan spielt. In Varaždin.

Bob Dylan spielt in Varaždin.

Am Freitag, den 13.

Wo, zum Teufel, ist eigentlich Varaždin?

„Komm mit nach Varaždin, so lange noch die Rosen blüh’n. Dort wollen wir glücklich sein. Du bist die schönste Fee von Debrecen bis Plattensee.“ So zumindest lässt Emerich Kàlmàn in seiner Operette „Gräfin Màriza“ singen. Irgendwie assoziiere ich Varaždin denn auch mit Grottenbahnmusik und verarmten ungarischen Adeligen, die sich als was anderes ausgeben, oder so. Deshalb war ich ja auch bis jetzt nie dort. Soll aber ein hübsches barockes Städtchen sein. Wahrscheinlich irgendwo in Ungarn, so wie sich das anhört.

Aber Bob Dylan? Ausgerechnet?

Varaždin liegt in Kroatien. Es war sogar einmal kroatische Hauptstadt. Und wahrscheinlich hat sich Kàlmàn das alles nur wegen des Reimes ausgedacht. Egal. Heute Abend spielt hier jedenfalls nicht Kàlmàn, sondern Dylan.

Am Vortag hat Bob Dylan in Leoben in der Steiermark gespielt. Und heute ist Freitag, der 13. Juni 2008, und in Varaždiner „Gradski Stadion“ spielen ab fünf Uhr irgendwelche kroatischen Liedermacher, ab sieben die Manic Street Preachers, und ab neun Uhr steht Mr. Bob Dylan auf dem Programm auf der elektronischen Leuchttafel.

Und deshalb sind wir heute 500 Kilometer weit gefahren aus Split bis Varaždin, um Herrn Robert Zimmermann zu hören, nach fast fünfzig Jahren auf der Bühne, mein Freund Dario und ich. Dario liebt Pete Seeger, Joan Baez, die Beatles, Johnny Cash und Peter, Paul & Mary, und fragt mich, wer die Manic Street Preachers sind. Ich definiere sie als einen Verschnitt von U2, etwas jünger und aus Wales, und auch deutlich linker als Bono, und hoffe, dass mich dabei keiner hört und auch kein Blitz erschlägt. Aber Dario versteht, was ich meine, denn U2 kennt er. Und was links ist weiß er auch. Und die Manic Street Preachers wird er nicht mögen, egal wie engagiert sie singen, das weiß wiederum ich.

Schließlich singen sie aber dann gar nicht so engagiert. Sie singen einfach laut, und nach 23 Jahren Bühnenerfahrung relativ professionell, ihr Programm herunter, dazwischen übt der Lichtregisseur noch einige Einstellungen für die Digiwall rechts und links von der Bühne, es ist sieben Uhr abends und taghell und ich habe Zeit, mir das Publikum in Ruhe anzusehen. Dessen Altersdurchschnitt ist deutlich höher als das der gesamten Securitymannschaft. Früher war das anders, aber früher gab’s auch keine Open Air Konzerte in Varaždin, schon gar nicht von Bob Dylan.

Früher gab es auf Konzerten auch deutlich weniger Bullen als hier, aber jetzt ist heute und hier und so sind die Zeiten eben. Früher waren wir zu diesem Zeitpunkt auch schon längst eingekifft. Heute sind wir nüchtern, nicht nur wegen der vielen Bullen, sondern auch, weil uns der Arzt das Rauchen verboten hat. Irgendwie komm’ ich mir vor wie auf einer Woodstock 40 Years Revival Party. Oder vielleicht war es Newport? Egal. Vorne müht sich James Dean Bradfield von den Preachers redlich, so etwas wie Stimmung aufkommen zu lassen. Dann sind eineinhalb Stunden um und der Set ist ausgespielt.

Nicht nur Dario steht hier nicht auf die Manic Street Preachers, heute abend. „You were fucking great“, schreit Bradfield jetzt zum Abschied ins Mikro, und „see you again next year“. Offennsichtlich glaubt das keiner hier, weder auf der Bühne oder im Publikum. Die Mehrheit ist heute nur aus einem Grund hier, und sorry, Bradfield, du bist es nicht. Auch gut. Dafür ist das Bier mit umgerechnet zwei Euro auf ein Krügerl billig und schmeckt auch noch anständig, und außerdem wird es langsam Abend an diesem verregneten Freitag, und es sieht ganz so aus, als würde es dann doch nicht mehr regnen. Im Westen glüht der Himmel rosapurpurlila, davor fährt ein Vorortezug.

Das Publikum hat, ganz entgegen den üblichen kroatischen Gepflogenheiten, keine Jogginghosen und Adidasjackerln an, die Männer tragen keine Goldkettchen und die Frauen keine Stiefel zu goldglänzenden Leggings, was der üblichen Kleiderordnung im Nightlife von Varaždin entspräche. Dafür tragen alle Männer Jeans, gerne auch Bart und einen ledernen Outbackhut à la Crocodile Dundee, oder war es doch Indiana Jones? Dazwischen gibt es auch die ungeschminkten Damen in den weiten Kleidern und den flachen Schuhen, die mittlerweile grauen Haare zum Zopf geflochten oder aufgesteckt, und auch den einen oder andern älteren Herren samt Ehefrau, die beide den Eindruck machen, als wären sie bereits in Pension. Es wird viel geraucht. Ich meine Zigaretten. Vorne am Einlass hängt ein Schild „No Guns. No Drogs. No Umbrellas.“ Das letztere verstehe ich nicht ganz, aber sie werden gnadenlos abgenommen und häufen sich neben dem Einlass. Ist ja wie auf einem Flughafen hier. Aber es ist eben nicht mehr so wie früher.

Heute abend trifft sich das alte linke Jugoslawien hier, das Milo Dor las und selbst „Blowing in the Wind“ sang, mal auf Englisch, mal auf Serbokroatisch. Auch würde ich den Anteil der HDZ-Wähler heute abend auf eher unterdurchschnittlich schätzen. Doch das ist nur die Hälfte des Publikums. Die andere besteht aus jenen, die erst lange nach Newport und Woodstock auf die Welt gekommen sind, den Kids, für die Bob Dylan offenbar etwas ganz anderes bedeutet. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich mir genau vorstellen kann, was.

Das Stadion fasst ungefähr fünftausend Personen, und langsam füllt es sich bis auf den letzten Platz, während es mittlerweile auch ganz dunkel geworden ist. Die PA spielt Led Leppelin, und trotz der Menge tanzen sich wie üblich ein paar Grobmotoriker ein, zu Stairway to Heaven und Jimmy Page, der ihr Großvater sein könnte. Es ist mittlerweile halb zehn, und Herr Zimmermann könnte jetzt auftreten.  Bei den Portapotties drängt sich die Menge, schließlich war der Bierabsatz seit fünf Uhr Nachmittag beachtlich, und das will jetzt entsorgt werden, so kommt auch der Hauptsponsor des Festivals, eine kroatische Biermarke, auf seine Rechnung. In Zeiten wie diesen geht das sogar geruchsfrei, das feine Pissoiraroma früher Festivals fehlt, heutzutage.

Ich weiß, ich wiederhole mich.

Und dann – kein Trommelwirbel, aber stürmischer Jubel, und er spielt. Ein Spot, kein Lichtwechsel. Dylan sitzt an Keyboards, schwarzer Hut, mein Gott ist der alt geworden, er eröffnet mit „Everybody Must Get Stoned“, herunter gehackt wie seinerzeit „Maggies Farm“, in einem ganz schnellen Bluegrass-Schlag, mit zwei klirrenden E-Gitarren und einem Schlagzeug und einer Geige, von der anfangs nicht viel zu hören ist. Keine Vidowall, keine Lichteffekte. Ich hätte ein Opernglas mitnehmen sollen.

Ich sitze auf der VIP-Bühne, die seitlich links angeordnet ist, offenbar reicht der Abstrahlkegel für die hohen Töne der PA nicht bis hierher, jedenfalls ist der Sound erbärmlich. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Soundcheck zehn Meter vor der Bühne steht. Und Bob Dylan klingt wie Tom Waits, der  Jonny Cash imitiert, wenn er Bob Dylan singt. Mann, womit gurgelt der vor seinen Auftritten?

Es klingt ernüchternd, um es höflich auszudrücken.

Ich schiebe die Schuld auf die PA und gehe hinunter in die Public Aerea, erst einmal ganz hinten, denn die Menge vorne steht dicht gedrängt, das ist mir zu heftig. (Sprich: Für so was bin ich zu alt.) Der Sound wird etwas besser, aber Dylan klingt noch immer, als hätte er mit Terpentin gegurgelt, dazu spielt er seinen Set stoisch ab. So wie der erste Song klang, so spielt er auch alle anderen. You Gotta Serve Someone. Just Like A Woman. A Hard Rain Is Gonna Fall. Alles die alten Hadern. Es ist erstaunlich, wie man diese Lieder so spielen kann, dass sie alle gleich klingen, aber Dylan kann das mit links, und wenn man sich einmal eingehört hat, versteht man sogar die Texte wieder, obwohl er selbst den Sprachrythmus der Songs völlig verdreht.

Beim Publikum ist allgemeine Rudelverzückung angesagt. Von hinten sehe ich mindestens eintausend Handybildschirme, weil alle das Ereignis mitfilmen wollen, die Kameras blitzen nur so links, rechts, in der Mitte. Früher waren es Bicfeuerzeuge, und Wunderkerzen, und ganz früher haben die Leute getanzt und waren irgendwie weggedröhnt. Aber das hier ist ein anständiges Festival und 2008, also gibt es Handybildschirme. Irgendwie war das Licht von den Bicfeuerzeugen wärmer, nicht so metallisch blau.

Mittendrin sitzt der alte Mann, stoisch, zwischen zwei Gas-Heizungsschwammerln, wie sie der Wirt im Frühjahr auf die Terrasse stellt, weil es regnet zwar nicht, aber es ist kühl geworden, und spielt seine Keyboards und seine Mundharmonika. Don’t Think Twice. Im Hintergrund fährt noch ein Zug durch, in dieselbe Richtung. Ob die in dem Zug wohl wissen, wer da spielt, und was? Jetzt spielt er Rainy Day Woman, in einer unfassbaren Fassung, immer mit der Mundharmonika, die er in seinem Rahmen um den Hals trägt wie seinerzeit, 1963, auf dem Newport Folk Festival. Mein Gott, ist das lange her. Und wozu bin ich jetzt 500 km gefahren, und was verdammt noch mal mache ich alter Trottel hier um halb elf Uhr abends? Ach ja, das ist ein Bob Dylan Konzert. Sorry I asked.

Ich weiss noch immer nicht, was ich hier eigentlich soll.

Nach einer Stunde hat sich Dylan eingesungen, jetzt klingt er wie er selber, nach einer schweren Bronchitis. Nasal, dafür etwas aufgerauht. If Dogs Run Free. Aber nichts von der Desire, nichts von späterem Material. Obwohl, nach zwei Stunden hab’ ich den Überblick verloren, denn Dylan näselt alle Songs gleich runter. Immerhin, über zwei Stunden dauert der Set, dann spielt er noch eine Zugabe, stellt seine Musiker vor, thank you. Aus.

Das Publikum strömt heraus, alle die älteren Linken und die Träumer und die Exhippies und die, die noch immer die gestreiften Hosen anhaben und die, die jetzt in Designerjeans kommen und die, die in verknitterten Cordhosen den Intellektuellen geben und der alte pensionierte Opa, der hat echt bis jetzt ausgehalten. Ich bin beeindruckt. Später sehe ich dann auch noch meinen Anwalt, aber ich beschließe, nicht zu winken. Ich habe jetzt keinen Bock. Wonderful music, sagt Dario, Dylan is beautiful.

Auf der Fahrt nach Hause hören wir ausschließlich Dylan. Und 500 km sind ziemlich lang, da kommt was zusammen. Und mir wird plötzlich bewusst: Herr Zimmermann hat einen großen Bogen geschlagen und ist zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Er singt Blues, in der Tradition von Blind Lemon Jefferson und Emmit Cole, aber auch von Woody Guthrie und George Landers. Nichts anderes hat er gemacht, 50 Jahre lang. Dazwischen immer wieder Ausflüge in andere Genre, Folk, Latin, Protest, wasweißich. Am Ende näselt er halt immer wieder seinen Blues herunter, wie irgendeiner von diesen Steel Guitar-Spielern in irgendeiner Spelunke in Georgia oder Louisiana. Und dazu ist er ein magischer Poet, ein Genie der Sprache, der wie kein anderer seine Zeit gespiegelt hat und dabei sich selber treu geblieben ist. Dylan, das Chamäleon. Dylan, der sich stets entzogen Habende, der Rockpoet, der keiner sein wollte. Immerhin einer, der es überlebt hat. Und immer wieder: Was für eine Magie der Sprache, was für eine Gewalt, was für eine Beherrschung der Nuancen. Ein Genie. Dylan Thomas war keine schlechte Anspielung.

Mein iPod spielt jetzt „The Times They Are A’Changing“ in unserem Autoradio. A hymn for the movement, sagt Dario. Which movement, frage ich. Was ist geblieben? Sind wir alle schon so alt geworden? Was ist mit unseren Träumen, Wünschen, Plänen, Sehnsüchten, unserer Wut und unserer Naivität und unseren felsenfesten Überzeugungen? Heast Oida, sagt mein kleiner Mann im Ohr, hab’ dich nicht so. Wegen dem bisserl älter werden.

Ein Bob Dylan Konzert an einem Freitag, den 13., in Varaždin in der nördlichen Zagorska von Kroatien. Immerhin. Es hätte schlimmer kommen können.