Hannover und so.

 

Aus dem Reisetagebuch des professionellen Österreichers.

 

Liebes Tagebuch: Und es begab sich, dass der Chaos Computer Club (CCC) zur Mitgliederversammlung rief, also fuhr der Igler nach Hannover.

Nun isses ja alles vorbei und ich sitze im Zug nach Hause. Der silbergraue ICE pfeift stetig vorwärts, draussen ziehen sie Landschaft vorbei, in relativ hohem Tempo. In Hannover schien noch die Sonne, dazwischen Hügel, Heidschnucken, Häuser. Es ist ein schönes Land, dieses Deutschland.

Hannover ist auch eine schmucke Stadt, eine halbe Million Einwohner, ganz viel Grünanlagen. Da kann man echt nicht meckern. Hannover ist die Landeshauptstadt von Niedersachsen, aber das fällt nicht weiter störend auf.

Meine Mutter traf den Mann, dessen Namen ich heute trage, dazumals im österreichischen Widerstand, in meiner Kindheit waren Deutsche nicht die beliebtesten Menschen. Ich war drei oder vier Jahre alt, meine Mutter und ihre Freundin Eri fuhren mit ihren beiden Kindern gen Italien, in einem alten Topolino, Mamis erstes eigenes Auto, von wegen Kind und so, manchmal weinte sie noch ihrer Vespa nach. Egal. Am Strand spielte ich mit einem Kind, dann gab es halt irgendeinen Streit, ich weiß längst nicht mehr worüber, jedenfalls zog ich mit meinem Sandschauferl dem andren Kind einen festen Scheitel. Mami stürzt entsetzt herbei, stellt mich zur Rede. Ich so, cool wie Calvin: „Geh Mami, das macht doch nix, es war eh’ nur ein Piefke“. Das war der Moment, erzählte mir meine Muter später, in dem sie sich entschloss, sorgsamer mit ihren Worten umzugehen, wenn es um die deutschen Nachbarn ging.

Zu spät, der Samen war ausgestreut. Mehrere Jahre in Tirol, in einem Fremdenverkehrsgebiet, in dem die lieben Nachbarn vier Fünftel der Touristen stellten – „Wieso kann man hier nicht in Mark zahlen? Kann ich vom Kaffee ein ganzes Kännchen bekommen? Haben Sie Quarksahnetorte?“ – halfen auch nicht wirklich. Wahrscheinlich hassten wir einfach die Touris, weil sie uns am Nachmittag beim Skifahren im Weg herumstanden, vor dem Skilift, respektive im Weg herumlagen auf der Piste, in diversen Stadien des Anfängersterns. Und es waren halt fast immer Deutsche. Der Rest war Holländer, die standen und lagen zwar auch im Weg herum, fanden es dafür aber auch ganz in Ordnung, dass wir die Deutschen nicht mochten.

So viel zu meiner Sozialisierung in Sachen deutschsprachiger Völkerverständigung. Als in Österreich im Fernsehen die Piefke-Saga lief, fand ich sie nicht überzeichnet, im Gegenteil. Schließlich hatte ich die Typen in natura erlebt. So erwirbt man sich sorgsam gepflegte Vorurteile.

Doch es ist an der Zeit, diese Vorurteile zu knacken (sorry, Mami.) Zu lange war mein Deutschlandbild von Bayern geprägt, Sie wissen schon, dieses Land zwischen uns und ihnen, das weltweit das Beliebteste an den Österreichern mit dem verbindet, was die Deutschen überall so gern gesehen macht. Später fuhr ich viel nach Frankfurt, das hübscheste an der Stadt ist der Flughafen, da kann man in jede Richtung wegfliegen; später kam noch ein wenig Rheinland dazu, dort wo sie Dir die Krawatte abschneiden, dazu im Chor Helau rufen und das lustig finden.

Ich weiß, man soll seine Vorurteile sorgsam pflegen. Aber es geht, um ein geflügeltes Wort aus der Werbung zu borgen, auch anders. Seit einigen Jahren fahre ich vermehrt in den deutschen Norden, erst nach Berlin und Hamburg, jetzt eben auch Hannover. Wirklich gute Nachbarn auf unserer dalmatinischen Insel sind ein ganz entzückendes Hamburger Ehepaar; in Kärnten sind unsere direkten Nachbarn ein Pastorenehepaar aus der Hamburger Friedensbewegung, mit langen, wunderschönen Abendeinladungen, wo vor lauter Diskussion über höchst Interessantes gar nicht auffällt, dass wir schon wieder drei Weinflaschen gezwickt haben und die ganze Quiche Lorraine aufgegessen wurde. Sie sind alles, was man sich von Nachbarn wünscht: Links, freundlich, haben Humor, schätzen einen guten Tropfen und sind, außer entzückend, lustig und hilfsbereit, eine Riesenhetz. So etwas unterminiert ungemein, selbst die solidesten Vorurteile. OK, sie kommen nicht aus Frankfurt und auch nicht aus dem Rheinland. Na ja, vielleicht eben dessentwegen.

Und jetzt der CCC und Hannover. Bleiben wir noch ein bisserl bei der Stadt. Die Menschen dort sind ungeheuer zivilisiert, und es wirkt nicht einmal aufgesetzt. Sonntag vormittag, Frühstück im Kaffeehaus: Jeder, der das Lokal betritt, wünscht laut und freundlich „Guten Morgen“, alle grüßen zurück. Wenn ich das in Wien macht, fragt der Herr Franz besorgt nach, ob’s mir auch gut geht, und ob ich nicht ein bisserl leiser sein könnt’, Herr Doktor, weil sie verstörn mir g’rad den Hofrat ausm zweiten Stock.

Man könnt’ sich dran gewöhnen. Dass einen Menschen auf der Straße zurück anlächeln, wenn man sie anlächelt. Dass Mütter nicht besorgt schauen (Kinderverzarah!) wenn ich ihr Baby anflirte (seitdem ich Opi bin, bin ich ein Kren auf kleine Kinder), sondern auch zurücklächeln, stolz darauf, dass der kleine Zwutsch so viel Gefallen findet. Dass sich Leute bedanken, wenn man ihnen die Tür aufhält. Dass ich hier Männer sehe, die mein Alter haben, graues kurzes Haar und einen Rucksack tragen und ein Beanie aufhaben – hier schaut mich keiner erstaunt an. Hier schaun mehr so aus. Sehr entspannend.

Irgendwie funktioniert auch das mit dem Multi-Kulti besser im Norden. Am Hamburger Bahnhof Dammtor führt eine junge Türkin, mit Kopftuch, den lokalen Dunkin’ Doughnuts. So etwas fällt nur mir auf, die Hamburger scheinen das normal zu finden.

Auch in Hannover ist das Liberale vorherrschend. Die lokale Food-Coop hat vielleicht Schwierigkeiten mit dem freiwilligen Verteildienst ihrer Ernte an die Mitglieder, aber es würde niemandem auch nur im Traum einfallen, sie wegen Verdachts auf illegale Gewerbsausübung anzuzeigen, wie das die Wirtschaftskammer in Wien mit der hiesigen Coop gemacht hat. Und erst die „Kiosk-Kultur“: Kleine Einzelhandelsläden, die entweder rund um die Uhr offen haben oder zumindest dann, wenn Rewe und Co geschlossen halten. Für ein schnelles Bier, oder auch eine Semmel, fürs Frühstück, oder wie man hier sagt: ’n Brötchen. Auch hier regt sich kein Ärmelschoner auf, alle kommen zu etwas, das ganze in einer Stadt in der Größe von Graz … ich kann mir zum Beispiel auch nicht vorstellen, dass sich Graz drei selbstverwaltete Jugend- und Kulturzentren leistet. (Die Grazer, Heimatstadt meiner Familie, mögen mir verzeihen. Sie halten hier als eine Art pars pro toto her.)

Draussen vor den Zugsfenstern weichen die spitzen Backsteintürmchen aus dem Norden Stück für Stück den barocken Zwiebeltürmchen aus dem Süden. Und ich leiste hiermit Abbitte an alle Piefke nördlich des Weisswurstäquator, die ich im Leben beleidigt habe, weil ich sie großmäulig, schnoddrig und nervtötend fand – es hat sich herausgestellt, das sind wir, im Süden.

Im Norden sind sie ganz anders. Wenn dort das Wetter nicht so bescheuert wäre, könnte man glatt auf ein wenig hinziehen.

Und die MV des CCC? Och, nichts wirklich Aufregendes.

Bemerkenswert fand ich, dass am Samstag nur Vorbesprechung war und nur am Sonntag abgestimmt wurde: So konnte am Samstag nach Herzenslust gefetzt werden, am Abend wurde in kleiner Runde noch mal alles durchgekaut, am Sonntag hatten sich die Gemüter schon wieder ein wenig abgekühlt, dann votet es sich auch viel entspannter.

Details? Konstanze zeigte sich – zumindest fast immer – guter Stimmung. Andy wurde gezaust, wegen eines Antrags ebenso wie wegen eines Interviews. Der Vorstand wurde entlastet und wiedergewählt. Und zur Feier der 25. Auflage der Transparenzdebatte gab es am Abend einen kleinen Umtrunk mit einer Hopfenkaltschale beim lokalen Hackerspace. Also eh’ alles so wie immer.

Wieso die Erinnerung tückisch ist und was Innsbruck damit zu tun hat. Ein Reisebericht

Und es begab sich, dass mich der Hafer stach, also fuhr ich nach Innsbruck.

Mit der Stadt Innsbruck verbindet mich seit Jugendtagen eine innige Hassliebe. Ich kann die Stadt nicht ausstehen, und sie mich auch nicht. Und das schon seit meiner zartesten Kindheit.

Ich bin ein echter Wiener, g’schamster Diener, ein Stadtkind, geboren sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, einen Steinwurf von der Landstrasse entfernt, in der Stiftung, wie die Wiener das Rudolfsspital nennen, weil es weiland der alte Kaiser zur Geburt seines einzigen Sohnes und Thronfolgers gestiftet hat.

Das mit dem Thronfolger wurde übrigens nix, wie wir seit Mayerling wissen. Aber das Spital ist was geworden. So ist das mit die Geschichte. Aber das nur am Rande.

Als Stadtkind jedenfalls hat man damals nicht so rasend gesund gelebt, es gab viel Staub und Zonengrenzen und Militär und wenig zu essen und auch wenig Grün. Wir wohnten im dritten Bezirk in der Salesianergasse, da war eine Fahrt in den Wienerwald eine Weltreise. Also verschickte man mich des Sommers zu einer befreundeten Bauersfamilie. Ins Ötztal. Nach Tirol. Auf die Burgstaller Alm. Das ist jetzt sechzig Jahre her. Ich hab’ es nachgerechnet.

Damals fuhr man vom Westbahnhof weg, über fünf Zonengrenzen und das französisch besetzte Innsbruck, bis zum Bahnhof Ötztal, der damals wie heute völlig einsam im Inntal steht. Hier steigt man nicht aus, hier steigt man allenfalls um. Wir stiegen in einen Postautobus um, ein ehrfurchtgebietender Saurer Diesel in knallgelb und tiefschwarz, mit einem Ganghebel, der war größer als ich, samt ehrfürchtig-bewundertem knorrigen aka unfreundlich-verschlossenem Tiroler als Busfahrer.

Besagter Postbus brummte behäbig das Ötztal hinein, schob seine riesige Schnauze durch die Orte Ötz, Habichen und Tumpen, Östen, Stubenwald und Winklen, in jedem Ort wurde schnaufend und fauchend Halt gemacht, stiegen Leute aus und ein, meist vor der Dorfkirche, diese war meist gelb und meist barock, so genau weiß ich das jetzt nicht mehr. Schließlich, nach weiterer endloser Fahrt, stiegen wir aus, nur um erneut in einen schnaufenden, schwarzgelben Postbus einzusteigen, der sich im Schritttempo die schmale, steile Schotterstrasse den Berg hinauf wand. Die Frage, was geschehen würde, wenn uns auf der einspurigen, in den Felsen geschlagenen Straße ein Fahrzeug entgegen gekommen wäre, stellte sich nie – es kam keins. Ich kann mich nicht erinnern, neben dem Postbus, dem Käfer der Gendarmen und dem Landrover meiner Eltern dort je ein motorbetriebenes Fahrzeug gesehen zu haben.

Den Namen der Bauersfamilie habe ich vergessen, ebenso wieso meine Eltern gerade auf sie gekommen waren. Der Hof war gemauert, vorne Küche und Stube, hinten Stall und Mistgrube, der erste Stock war vorne auch gemauert und enthielt die Schlafstuben, die Tenne hinten war aus Holz, mit Plumpsklo über der Grube.

Gegessen wurde in der Stube um den großen Tisch, aus einer gemeinsamen Pfanne, jeder hatte einen Löffel, und es gab eine strenge Reihung, nach der man hineinlangen durfte. In der Küche stand ein gemauerter Herd, der in meiner Erinnerung stets brannte, vor dem Haus war ein kleiner Bauerngarten mit Fisolen, Erdäpfeln, Karotten. Der Geruch des Heus und des Stallmistes aus der Grube auf der Tenne, die bis zu den Dachsparren offen war, so dass man ganz hoch hinaufklettern konnte. Die animalische Wärme im Stall, der Geruch von Kühen und frischer Milch. Tagsüber fuhren wir zum Heuen auf die Felder, die Sonne brannte, das Heu roch unbeschreiblich, die zwei Pferde, die den Heuwagen zogen, ebenfalls, und wie viel Heu auf einen Wagen ging, mit einem Holzbalken an Eisenketten oben in Längsrichtung zusammengehalten, verblüffte mich jedes Mal. Ganz oben durften wir dann sitzen, abends, wenn die Pferde mit viel Hüh und Hott die Fuhre heimwärts zogen.

Strom muss es wohl gegeben haben, denn ich kann mich nicht an Petroleumlampen oder Kerzen im Alltag erinnern, aber sonst gab es nicht viel, kein Radio, kein Telefon, keine Autos, keine Flugzeuge am Himmel, aber auch am Boden keinen Traktor, keine Motorsäge, nichts knatterndes oder fauchendes oder quietschendes, was heute einen modernen Bauernhof halt so ausmacht. Es gab auch kein Badezimmer und schon gar kein fließendes Wasser, weder warm noch sonst wie, nur klar und stets eiskalt am Brunnen vor der Tür. Es gab Sensen und Sicheln und Dreschflegel und eine Dengelbank, es gab gusseiserne Pfannen und hölzerne Löffel, einen Knecht und eine Magd, es gab besagte Pferde und Kühe und Schweine und Hühner, ein Tiroler Bergbauernhof in den Fünfzigerjahren, halt.

Ich fand es, wenn ich mich so zurück erinnere, nicht immer rasend knusprig, das Leben am Busen der Natur. Ich fand den Busen eher kratzig, unbequem und streng riechend, in unzähligen Variationen desselben. Das Heu piekste, vor allem in meiner Matratze, am Klo hatte ich stets Angst, in die Grube zu fallen, das Essen war seltsam und selbst die vielen Kinder sprachen eine Sprache, die ich nicht verstand. Ein Stadtkind eben, da halfen auch drei Monate Landleben auf der Alm nicht darüber hinweg.

Sei’s drum, diese Bilder von der Burgstaller Alm im Ötztal prägen seither, tief in meinem Innersten, alles, was mit „Tirol“ zu tun hat.

Als die Besatzung vorüber war, fuhren wir noch immer zur Sommerfrische nach Tirol, so lernte ich später auch Innsbruck kennen, für mich war das zwar schon eine Stadt – immerhin gab’s sogar eine Tramway – aber keine zehn Minuten vor der Stadt war der erste Bauernhof – mit Stall – Geruch der Kühe – so ein Unterbewusstsein kann schon heimtückisch sein.

Doch das ist erst der erste Teil meiner Tirol-Prägung. Der zweite Teil kam später und dauerte drei Jahre lang, vom Alter von dreizehn bis knapp nach meinem sechzehnten Geburtstag besuchte ich die Planseeschule in Reutte, zuerst als Zögling des lokalen Internats, später als Bewohner eines Untermietzimmers, was damals – ich war erst fünfzehn – für ein bisserl Aufregung gesorgt hat. Egal – meine prägenden Jugendjahre verbrachte ich in einem Kaff in den Bergen, mit dem Talboden auf 1000 Meter Seehöhe, alles andere ist höher, und zwar um Einiges, sprich: Jede Menge Berge, Typ steil. Ein Kaff mit damals viertausend Einwohnern, einem Bezirksgericht, einer Hauptschule, einem Gymnasium, drei Kirchen, fünf Gasthäuser, zwei Konditoreien und einem Bahnhof. Die Fahrt von dort nach Innsbruck dauerte fünf Stunden und führte über Deutschland, mit dem Postauto über den Fernpass ging’s nicht sehr viel schneller. Als Freizeitbeschäftigung konnte man Fußball spielen, bergsteigen, skifahren oder saufen, meist kombinierten wir diese Beschäftigungen, je nach Saison; es gab fünf Fernsehsender, wofür mich Bekannte in Wien glühend beneideten, denn dort gab’s nur zwei; das nächste Kino war in Füssen, in Deutschland, mit dem Fahrrad in einer Stunde locker erreichbar, ich war ein sportliches Kerlchen, damals.

Dennoch habe ich in diesem Ort prägende Jahre meiner Jugend verbracht. Hier las ich zum ersten Mal Günther Nennings „Neues FORVM“, hier trat ich zum ersten Mal öffentlich und lautstark gegen den Vietnamkrieg auf, hier bekam ich meinen ersten Kuss mit eindeutig sexuellen Absichten, hier habe ich meinen ersten Joint geraucht (mit einem winzigen Krümel, bei einem Wochenende im nahen München ergattert), hier habe ich eine Schülerzeitung gegründet (und mich geweigert, unserem Schuldirektor den Inhalt vor Drucklegung zu zeigen, was als kleinere Revolution empfunden wurde), hier ließ ich mir zum ersten Mal die Haare lang wachsen, hier habe ich Gitarre spielen gelernt (ich ging sogar, mit beschränktem Erfolg, ein Jahr lang in die Musikschule), hier schrieb ich meinen ersten Artikel gegen Bezahlung (ein Bericht über die Eröffnung des Hallenbades, vom Erlös kaufte ich, vor Stolz geschwollen, meine erste Glockenhose) und hier habe ich auch zum ersten Mal mit einem Mädchen geschlafen.

Und so ist meine Tirol-Prägung verhaftet zwischen einem Ötztaler Bergbauernhof in den Fünfzigern und einer Kleinstadt im Tiroler Ausserfern in den Sechzigern, irgendwo zwischen malerisch und dumpf. Ich erinnere mich, dass ich in Reutte als – einziger – Gymnasiast der Gewerkschaftsjugend beitrat, was einen ziemlichen Wirbel herauf beschwor. Das haben mir die lokalen Spießer mehr verübelt als sonst etwas, denn diese Provokation hatten sie verstanden. Das mit dem Vietnamkrieg … damals …

Und Innsbruck war zwar weit weg, aber um nichts besser, allenfalls größer, aber ebenso bürgerlich-spießig. München, ja, da ging die Post ab, da habe ich meinen ersten Hippie gesehen, damals nannte man das Gammler, und ich war per Autostop und heimlich über’s Wochenende dorthin gefahren, in Schwabing habe ich meine erste Nacht durchgetanzt, im Blow Up … aber Innsbruck … das Aufregendste war der Bahnhof, und wer den alten Innsbrucker Bahnhof noch kannte, weiß dass das jetzt kein Kompliment war. Und seither mögen wir uns nicht, die Stadt Innsbruck und ich, ich fand sie spießig, sie fand mich wienerisch-angeberisch, und dabei haben wir es belassen.

So viel zu meiner tiefen Bindung zu Innsbruck und Tirol im Allgemeinen und zu Reutte im Besondern. Ich verließ Reutte im Frühjahr 1968, knapp nach meinem sechzehnten Geburtstag, ich hatte die Enge und das unsäglich Müffige satt, die katholisch-spießige Doppelmoral – halt das, was wir auch heute noch an der Provinz so lieben; ich schmiss alles hin und fuhr nach Paris, weil dort die Revolution vorbereitet wurde, und das wollte ich keinesfalls verpassen. Als ich von dort wiederkam, ging ich nach Wien – die Periode Tirol war abgeschlossen.

So weit, so gut.

Dennoch habe ich heute Freunde in Innsbruck, so richtig nette Menschen, die ich gerne sehe und die sich – zumindest gehe ich davon aus – auch freuen, wenn sie mich sehen. Und dann schrieb im Frühjahr eine Freundin aus Innsbruck, es gäbe für ein paar Tage ein freies Zimmer, gratis, so was soll man nicht ausschlagen, also fuhr ich nach Innsbruck.

Natürlich bin ich seit 1968 wieder in Innsbruck gewesen, aber meist nur auf der Durchreise, seitdem es die Autobahn gibt, ist das ganz unspektakulär, vier oder fünf Overhead-Aufschriften, Innsbruck Ost, Mitte, West, fertig.

Da kommt nicht viel Emotion hoch.

Dann war ich in jüngerer Zeit mehrmals bei diversen politischen Veranstaltungen in der Tiroler Landeshauptstadt, aber da ging’s immer um etwas und ich hatte kaum Zeit für Privates, geschweige denn Nostalgisches.

Diesmal sollte es bewusst anders werden: Ich fuhr nach Innsbruck, um meine Freunde zu sehen, aber auch, um meine Nostalgie zu befriedigen, also war ein Trip nach Reutte explizit eingeplant. Ist ja, in der Zwischenzeit, dank Autobahn und Schnellstraße, nur noch zwei knappe Stunden, über den Fernpass. Hinfahren, Mittag essen, ein bisserl nostalgisch herumspazieren, sich erinnern, fertig.

Natürlich ist mir bewusst, dass sich seit meinen prägenden Jahren im Heiligen Land Tirol, mehr als ein halbes Leben her, einiges geändert hat. Schließlich hat man seither das Internet, Dolly Buster und das sprechende Schweinderl in der Billawerbung erfunden, und auch sonst hat sich ja noch einiges geändert.

Auch lebe ich, nach vielen Jahren in Genf, Paris und Ottakring, wieder auf dem Land, im Kärntner Jauntal, um genauer zu sein, und mir ist klar, dass Bauernhöfe heute ein bisserl anders ausschauen und auch anders funktionieren als damals auf der Burgstaller Alm. Noch immer riecht es im Stall meines Nachbarn nach Kuh, aber der Geruch der frischen Milch ist weg, dafür summt im Hintergrund die pneumatische Melkanlage. Und nach dem Melken trägt der Nachbar den Milchertrag per Internet auf der AMA-Homepage ein, und Knechte und Mägde gibt’s schon lange nicht mehr. Auch essen schon lange nicht mehr alle nur aus einem Topf, und die Heumahd wird nicht mehr per Pferdefuhrwerk und von allen gemeinsam erledigt, sondern vom Bauern, alleine, mit dem Traktor, und das in einem Nachmittag. Ich bin mir also durchaus bewusst, dass sich die Welt verändert hat.

Trotzdem war ich auf das, was ich bei meinem Tirol-Nostalgie-Trip erlebt habe, eindeutig nicht vorbereitet.

Der Weg von Innsbruck führt über die Autobahn nach Imst, dort führt die Strasse auf’s Mieminger Plateau hinauf, über Affenhausen, Mieming und Obsteig. Das waren, seinerzeit, Orte aus der Zeit gefallen, verschlossen und menschenleer, die Häuser zweistöckig gemauert und ausgiebig bemalt, umrahmt von der hoch aufragenden, kargen und steilen Kulisse der Nordtiroler Alpen. Und alle halben Stunden ein Auto. Ich weiß das genau, ich bin die Strecke Autostop gefahren, mehr als einmal, ich war dort mit jedem Kilometerstein per Du.

No more. „Auf der Strasse nach Reutte wird es viel Verkehr geben“, so meine Innsbrucker Freundin. Ich möchte das als das Understatement des Jahres bezeichen. Von Imst, über das Mieminger Plateau, den Fernpass hinauf und bis nach Reutte hinunter, hab’ ich mich im Stop-and-go-Verkehr gequält, Stoßstange an Stoßstange.

Die Berge schauen noch immer so aus wie früher, ich habe auch ein paar von den bemalten Häusern gesehen, den Rest der Zeit verbrachte ich damit, auf meinen Vordermann nicht aufzufahren respektive mein Auto zu bewegen, bevor hinter mir wütendes Gehupe ausbrach, wg. Trödelns am Steuer, oder so ähnlich.

Nie wieder, ich verspreche es feierlich, will ich mich über Tiroler Transitgegner lustig machen. Würde ich an der Fernpass-Bundesstrasse wohnen, ich würde sie des Nachts heimlich aufgraben, einen Blaumilchkanal errichten oder eine Umleitung in den lokalen Steinbruch, whatever – das ist, meiner Seel’, wirklich nicht auszuhalten.

Nach zwei Stunden war ich in Reutte, etwas betäubt. Ich nehme die erste Ausfahrt, Reutte Süd, schau’, ob ich etwas erkenne. Da war doch das Hallenbad, da war ein freies Feld, da war … vergiss es.

Das Zentrum hat man umgebaut, führte der Autoverkehr damals, zu meiner Zeit, noch quer durch den Ort, wird er jetzt in einer Art Kreisverkehr herumgeführt – abgesehen von der Schnellstrasse, die den Fernverkehr aufnimmt. Alles ist sehr hübsch, ich erkenne nichts mehr. Ach ja, die Pfarrkirche … hier hab’ ich im Kirchenchor gesungen. Der Buchladen, wo ich Taschenbuchausgaben von Sartre, Steinbeck und Hemingway erwarb. Aber sonst …

Ich esse im „Goldenen Hirschen“ zu Mittag. Einst ein stolzes Gasthaus, in dem ich zum ersten Mal solche Klassiker wie Kasspätzle oder gebackenen Emmentaler aß, heute nennt man sich Hotel und macht auf vornehm. Dafür ist die Speisenkarte völlig unambitioniert und bietet Allerweltskost, sichtlich abgestimmt auf die Pensionistenehepaare, die mich umgeben. Offenbar alle in Halbpension … egal. Muss ja nicht sein. Ich fahr jetzt in den Stadtteil Mühl, dort stand das alte Schülerheim …

Die Schule fand ich noch, sonst nichts mehr. Nach längerem Herumirren fand ich die Strasse, in der das Heim einst stand. Davon ist aber nichts mehr übrig. Neubauten, Siedlungshäuser, Fremdenpensionen, wohin das Auge schaut.

Mir wird wehmütig um’s Herz. Da verschwindet meine Jugend, vor meinen Augen. Irgendwo hier muss der Ort sein, wo ich „House of the Rising Sun“ auf der Gitarre geübt habe, stundenlang, immer wieder, bis ich es flüssig hinbrachte, mein erstes Musikstück auf der Klampfe.

Plötzlich ein Schild: „Urisee“. Der kleine See, am Nordosthang des Reuttener Beckens gelegen, ein verträumter kleiner See, wo wir an heißen Sommertagen baden gingen, mit den Fahrrädern. Hier hab’ ich meinen ersten nackten Mädchenbusen berührt, den man mir in genau dieser Absicht entgegen gehalten hat. Endlich ein Ort, an dem meine Erinnerungen … die kleine Strasse windet sich den Hang hinauf, oben links ein Hotel – ok, soll sein, aber rechts, rechts ist der See. Ich stelle das Auto ab, gehe erwartungsvoll die ersten Schritte zum im Wald versteckten Seeufer …

Vrooom.

In zwei Metern Entfernung führt – vroom, vroom – die Schnellstrasse vorbei, Augsburg-Verona, ein altes EU-Projekt. Schön, Strassen muss es geben, aber direkt durch meine Jugenderinnerungen?

Vroom, vroom, vroooohm …. vrooohm

Ist ja gut. Ich hab’s kapiert.

Hiermit gebe ich bekannt, dass meine Jugend endgültig vorbei ist, einschließlich sämtlicher Spuren, die es je gegeben hat.

Fazit: Auch Erinnerungen haben ein Ablaufdatum. Spätestens dann sollte man sie wegpacken. Einrexen. Irgendwo auf dem Dachboden des Älterwerdens verstauen. Und dort verstauben lassen.

*seufz*